‘Wenn ich in die Industrie oder öffentliche Verwaltung wechsle, muss ich dann wieder von vorne anfangen?’ ist eine Frage, die in der Karriereberatung in der ein oder anderen Form immer wieder auftaucht. Es ist klar, dass du nachdem du so viel Zeit in deine Ausbildung und dein Forschungsprojekt investiert hast, nicht nochmal bei Null anfangen willst. Aber ist es wirklich so, dass du wieder von vorne anfängst nach einem Karrierewechsel? Und was ist so schlecht an einem Neustart?
Du wirst wahrscheinlich nicht mehr die exakt gleichen Methoden, oder die gleiche hochspezialisierte Forschungsanlage benutzen, und du wirst wohl auch nicht mehr anhand deiner Publikationsliste beurteilt. Aber hier kommt der springende Punkt: Während deiner Zeit in der Wissenschaft, hast du sehr viel mehr als Spitzenforschung gelernt. Du hast in internationalen und diversen Teams gearbeitet, ein internationales Netzwerk aufgebaut, gelernt wie man komplexe Daten darstellt und Berichte schreibt, du weisst wie du verschiedene Ansätze beurteilen und eine gute Datenqualität garantieren kannst, hast Erfahrung mit öffentlichen Auftritten, und hast Projektleitungserfahrung gesammelt. Zusätzlich hast du dein analytisches Denken und deine Problemlösefähigkeit trainiert, und gezeigt, dass du Neues lernen und dich in einer fremden Umgebung zurechtfinden kannst. Vielleicht hast du gar nicht bemerkt, wie viele Kompetenzen zu so nebenbei entwickelt hast, weil du das Meistern dieser Aufgaben als selbstverständlichen und integralen Teil deiner Arbeit als Wissenschaftler*in wahrgenommen hast. Dadurch werden sie aber auf keinen Fall weniger wichtig. Im Gegenteil, viele dieser nebenbei erworbenen Kompetenzen bilden eine grossartige Basis für eine erfolgreiche Karriere ausserhalb der Wissenschaft, und es sind Erfahrungen, die du immer mitnehmen wirst.
Es mag zwar so scheinen, dass alle in der Wissenschaft bleiben, und du die grosse Ausnahme bist, wenn du einen anderen Karriereweg einschlägst. Dem ist aber nicht so; mehr als die Hälfte der Doktorierenden verlassen die Wissenschaft direkt nach dem Doktorat, und nehmen Stellen in der Industrie oder anderen Bereichen an. Weitere ~40% machen diesen Schritt nach weiteren Jahren in der Wissenschaft. Weniger als 1% bleibt in der Wissenschaft und erhält eine der heiss begehrten Professorenstellen (The Royal Society, 2010). Wieso haben dann so viele junge Wissenschaftler*innen das Gefühl, dass fast alle in der Wissenschaft bleiben? Das liegt daran, dass wir im Alltag hauptsächlich mit diesen interagieren. Für Wissenschaftler*innen ist es nur natürlich, einen Grossteil unserer Zeit mit anderen Wissenschaftler*innen zu verbringen. Wir treffen an der Universität oder an Konferenzen einfach keine der Personen, die aus der Wissenschaft weg sind. Das heisst nicht, dass diese weniger erfolgreich oder weniger wichtig wären. Sie sind einfach Teil einer anderen Welt. Was am Ende zählt, ist dass wir alle einen Beruf finden, der mit unseren Zielen, Interessen und Kompetenzen übereinstimmt.
Wenn du nach deinem Doktorat oder Postdoc sowieso in die Industrie wechselst, wäre es nicht besser gewesen, von Anfang an dort zu arbeiten? Nein, nicht wenn dich dein Thema begeistert, und dir deine Arbeit in der Forschung gefällt. Du warst Teil einer einzigartigen Gemeinschaft, hast international zusammengearbeitet, konntest viel reisen und deine Ideen mit anderen Experten austauschen. Du hast dazu beigetragen, die Gesellschaft weiter zu bringen. Und das Wichtigste, du hast deinen Wissensdurst gestillt, und dir selber die Möglichkeiten geschaffen, wichtige Kompetenzen zu lernen, während du an etwas arbeitest, was dir so richtig Spass macht. Schlussendlich kannst du dir neues Wissen aneignen, und mit Veränderungen umgehen. Und genau das wird sehr nützlich sein, solltest du dich dazu entscheiden, deine Karriere ausserhalb der Wissenschaft fortzusetzen.