Zehn Jahre Forschung in der fliegenden Untertasse

Paul Scherrer Institut zieht zum Jubiläum eine positive Bilanz der Grossforschungsanlage SLS

Mit einem Festakt hat das Paul Scherrer Institut (PSI) in Villigen (AG) heute an das zehnjährige Bestehen ihrer bedeutendsten Grossforschungsanlage erinnert. Seit der Inbetriebnahme im Sommer 2001 haben Tausende von Forschern aus Hochschule und Industrie an der Synchroton Lichtquelle Schweiz (SLS) qualitativ hochwertige Experimente durchgeführt. Ihre Forschung mündete in über 2000 wissenschaftlichen Publikationen und brachte darüber hinaus einen Nobelpreis sowie eine Vielzahl industrieller Anwendungen hervor.

Luftaufnahme des Paul Scherrer Instituts (Areal West) vom Juni 2009. Im Vordergrund die SLS. (Foto: PSI/M. Fischer)
In der Halle der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS. (Foto: Scanderbeg Sauer Photography)
Previous slide
Next slide

Wer von Villigen Richtung Norden fährt sieht es schon von Weitem. Fliegende Untertasse, Ufo, Frisbee oder Donut sind die Assoziationen die Besuchern beim Betrachten des kreisrunden Gebäudes mit Innenhof einfallen. Doch die SLS macht nicht nur architektonisch auf sich aufmerksam: „Wir beobachten in der Schweiz und im Ausland auch zehn Jahre nach der Inbetriebnahme eine weiter wachsende Nachfrage von Wissenschaftlern, die an der SLS forschen wollen“, sagte Prof. Friso van der Veen, Leiter des PSI-Forschungsbereichs „Synchrotronstrahlung und Nanotechnologie“. Dank der einzigartigen Stabilität und Zuverlässigkeit der Anlage sowie der erstklassigen Qualifikation der Ingenieure und Techniker hat sich die SLS ein weltweites Renommee als Instrument der Spitzenforschung erworben. So nutzte der indisch-amerikanische Strukturbiologe Venkatraman Ramakrishnan, der 2009 mit dem Chemie-Nobelpreis ausgezeichnete wurde, die SLS als eine wichtige Plattform für seine Forschung am Ribosom.

Die Synchrotron Lichtquelle Schweiz erzeugt intensives Röntgenlicht, das Materialuntersuchungen in einem breiten Anwendungsspektrum erlaubt. Um Synchrotronlicht zu gewinnen, kreisen in der SLS elektrisch geladene Teilchen (Elektronen) in einer ringförmigen Anlage. Dabei strahlen die Elektronen Licht ab, das an Experimentierplätze geführt und dort von Forschern für ihre Experimente genutzt wird. An der SLS arbeiten Gastforscher aus dem In- und Ausland. Daneben betreibt das PSI dort selber ein hochqualifiziertes eigenes Forschungsprogramm.

Wichtige Erfolge wurden in der SLS in den letzten zehn Jahren bei der Aufklärung der Struktur von Eiweissmolekülen erzielt, die bestimmend sind für alle Lebensformen. Die sogenannte Proteinkristallografie erlaubt beispielsweise der Pharmaindustrie die Entwicklung neuer Medikamente. Eine weitere Erfolgsgeschichte der SLS ist die Phasenkontrast-Mikroskopie. Mit ihr kann man – anders als mit einem klassischen Röntgengerät – auch in sehr weichem Körpergewebe Kontraste erkennen. Dies eröffnet neuartige diagnostische Möglichkeiten beispielsweise zur Früherkennung von Brustkrebs. Auf dieser Grundlage werden neue Mammografie-Geräte entwickelt, die bald auf den Markt kommen dürften. Eine entsprechende Publikation hat das PSI jüngst in Zusammenarbeit mit dem Kantonsspital Baden und dem auch in der Medizintechnik tätigen Elektronikkonzern Philips veröffentlicht. Die Synchrotronstrahlung wird weiterhin in erheblichem Ausmass auch für Grundlagenforschung in der Festkörperphysik genutzt. Die Forschung mit Röntgenstrahlen führt zu einem besseren Verständnis der Eigenschaften von Materie, etwa bei physikalischen Phänomenen wie Magnetismus und Supraleitung.

Um der wachsenden Nachfrage von Forschern und der enormen Themenvielfalt gerecht zu werden, wurde die SLS im Verlauf der letzten zehn Jahre ständig erweitert, von anfänglich vier Strahllinien auf heute 16. Zwei weitere Strahllinien sind im Aufbau und sollen den Forschern bis Ende Jahr zur Verfügung stehen. In den vergangenen zehn Jahren gab es über 20 000 Besuche von Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland, die einen oder mehrere Tage lang an der SLS forschten. Ihre Arbeit trug Früchte: die gegen 7000 Experimente, die seit 2001 an der SLS durchgeführt wurden, mündeten in über 2000 wissenschaftlichen Publikationen. Von diesen erschien ein vergleichsweise hoher Anteil in wissenschaftlichen Top-Zeitschriften wie „Nature“, „Science“, „Cell“ und „Physical Review Letters“.

SLS-Forschung zeichnet sich aber auch aus durch einen hohen Impact für die Wirtschaft. Die Anlage ist heute ein fester Bestandteil der Industrieforschung. Dies nicht nur im Pharma-Sektor, sondern auch in der Mikroelekronik (Lithografieverfahren) oder der Automobilindustrie (Porosität von Werkstoffen). Schweizer Pharmakonzerne wie Novartis und Roche haben direkt in den Ausbau der SLS investiert. Die Anlage behauptet sich auch im Wettbewerb der unterdessen rund 50 Synchrotrone weltweit. So forscht beispielsweise die japanische Unternehmensgruppe Mitsubishi in Villigen. „Elf Prozent der Messzeit an der SLS – deutlich mehr als zunächst geplant – wird durch Industrieunternehmen in Anspruch genommen. Das ist doppelt so viel wie an anderen Synchrotronen“, sagte Philipp Dietrich, der für die Industrievermarktung der SLS zuständig ist.

Entwicklung, Bau und Betrieb der SLS führten zu 28 Patentanmeldungen, von der Röntgenoptik bis zur Elektronik. Aus der SLS-Forschung gingen in den letzten sechs Jahren mit der DECTRIS AG (Röntgendetektoren für Forschung und Labor), EULITHA AG (nanostrukturierte Oberflächen) und EXPOSE GmbH (Dienstleistungen für Proteinkristallografie) drei Spin-Off-Firmen hervor. Alle drei Unternehmen sind im Kanton Aargau domiziliert. Darüber hinaus ermöglichte die SLS die Entwicklung neuer Technologien beispielsweise im Bereich Elektrotechnik, die heute in der Wirtschaft praktische Anwendung erfahren.

Als die SLS vor zehn Jahren in Betrieb genommen wurde, war sie weltweit die erste Lichtquelle ihrer Grösse, mit der kurzwellige Röntgenstrahlen mit hoher Brillanz erzeugt werden konnten. Das war zuvor grossen Anlagen vorbehalten. Zudem garantierte eine Reihe von technischen Neuentwicklungen eine bis dahin nicht erreichte Stabilität des Röntgenstrahls. Die innovativen Konzepte der SLS wurden von allen nachfolgenden Anlagen in Schweden, Taiwan, Spanien, Frankreich und Grossbritannien übernommen und sind heute Standard für eine Lichtquelle mit Spitzenqualität. Die SLS kann mit ihren exzellenten Anwendungsmöglichkeiten noch weit länger als die üblichen 30 Jahre in Betrieb bleiben, auch wenn 2017 der neue Röntgenlaser SwissFEL in Betrieb geht, der Licht mit noch höherer Brillanz erzeugt und mit dem dank der noch kürzeren Pulse selbst molekulare Abläufe filmisch dargestellt werden können. „Die SLS bleibt auch nach zehn Betriebsjahren eine der technisch fortgeschrittensten Anlagen der Welt“, sagt Prof. Leonid Rivkin, Leiter des Fachbereichs Grossforschungsanlagen am PSI.

Statements von SLS-Nutzern:

„Die SLS ist ein Beispiel für Schweizer Gründlichkeit, für durchdachte, technisch robuste Lösungen. Boehringer Ingelheim war einer der ersten Industrienutzer an der neu eröffneten SLS. Als Folge der guten Erfahrungen haben wir uns selber an einer neuen Strahllinie beteiligt, um uns die gewünschte Messzeit langfristig zu sichern. Wir haben dank der SLS-Messungen in sehr vielen Forschungsprojekten unseres Hauses Beiträge leisten können.“ Dr. Alexander Pautsch, Laborleiter, Boehringer Ingelheim Pharma GmbH & Co. KG

„Wir haben an der SLS unser eigenes Elektronenspektrometer, an dem wir ein weltweit einzigartiges Experiment zur spinpolarisierten Photoemission durchführen, eine Messmethode, mit welcher wir die elektronischen Eigenschaften von Oberflächen und neuen Materialien untersuchen. Der Synchrotronstrahl an der SLS steht praktisch ohne Ausfälle zur Verfügung. Da unsere Messungen relativ lange dauern, profitieren wir von der Top-up-Methode, die garantiert, dass der Elektronenstrahl in der SLS sich über die Zeit nicht ausdünnt.“ Jürg Osterwalder, Physikprofessor Universität Zürich

„Die SLS gibt uns die Möglichkeit, sehr alte Fossilien von Tieren oder Pflanzen zu studieren, ohne diese beschädigen zu müssen. Mit der TOMCAT-Strahllinie der SLS steht uns ein Werkzeug zur Verfügung, das nicht alle Synchrotrone haben. Wir können dort kleinste Strukturen bis zu einer Grösse von einem Tausendstelmillimeter studieren. Das Team der SLS arbeitet sehr nutzerorientiert und ist bemüht, den Forschern die Arbeit an den Experimenten so einfach wie möglich zu machen. Die Unterstützung ist wirklich exzellent.“ Prof. Philip Donoghue, Paläontologe, Universität Bristol, dessen Messungen an der SLS auch in dem BBC-Film „First Life“ von Robert Attenborough gezeigt werden.


Über das PSI

Das Paul Scherrer Institut entwickelt, baut und betreibt grosse und komplexe Forschungsanlagen und stellt sie der nationalen und internationalen Forschungsgemeinde zur Verfügung. Eigene Forschungsschwerpunkte sind Materie und Material, Mensch und Gesundheit, sowie Energie und Umwelt. Mit 1400 Mitarbeitenden und einem Jahresbudget von rund 300 Mio. CHF ist es das grösste Forschungsinstitut der Schweiz.

Kontakt / Ansprechpartner
Professor Dr. Friso van der Veen, Paul Scherrer Institut, Bereichsleiter Synchrotronstrahlung und Nanotechnologie, Tel: +41 56 310 5118, E-Mail: friso.vanderveen@psi.ch

Professor Dr. Leonid Rivkin, Paul Scherrer Institut, Bereichsleiter Grossforschungsanlagen,
Tel: +41 56 310 3214, E-Mail: leonid.rivkin@psi.ch

Dr. Philipp Dietrich, Geschäftsführer SLS Techno-Trans AG,
Tel: +41 56 310 45 73, E-Mail: philipp.dietrich@psi.ch
Bildmaterial

Mit Klick auf das Download-Icon können Sie die hoch aufgelöste Version herunterladen.