Ist dies der richtige Zeitpunkt für ein waghalsiges Experiment?

PSI-Direktor Joël Mesot hat sich heute in der Aargauer Zeitung mit einem Gastkommentar zur Debatte um die Ecopop-Initiative geäussert. Lesen Sie hier seinen vollständigen Text.

Joël Mesot ist seit 2008 Direktor des Paul Scherrer Instituts in Villigen/Würenlingen AG. Das PSI gehört zum ETH-Bereich, ebenso wie die Forschungseinrichtungen Eawag, Empa und WSL sowie die beiden Eidgenössischen Hochschulen in Zürich und Lausanne, an denen Mesot eine Doppelprofessur innehat.

Als ich kürzlich während einer Präsentation erwähnte, dass das Paul Scherrer Institut (PSI) derzeit Forschende aus über 60 verschiedenen Ländern beschäftigt, wurde ich gefragt, ob diese Vielfalt das Ergebnis einer gezielten Strategie oder Zufall sei. Bei der Antwort zögerte ich einen Moment. Es ist gar nicht so einfach, einen Umstand zu erklären, der zwar komplex, für Spitzenforschung und Innovation aber kennzeichnend ist – und damit für die langfristige Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz entscheidend. Deshalb möchte ich meine Sicht kurz schildern.

Der Erfolg der Schweiz, insbesondere ihr wirtschaftlicher, beruht zu einem wesentlichen Teil auf ihrer Innovationskraft. Diese Feststellung ist nicht neu, sondern gilt bereits seit dem letzten Jahrhundert. Eine tragende Rolle spielt dabei das dezidierte Engagement von Politik und Wirtschaft für Forschung und Innovation. Dazu gehören unter anderem politische und rechtliche Stabilität sowie unser hervorragendes, durchlässiges Bildungssystem. Doch einem Aspekt wird nach meinem Dafürhalten zu wenig Beachtung geschenkt: der Offenheit der Schweiz gegenüber Ausländern.

Die Gründung einer ganzen Reihe renommierter Industrieunternehmen geht auf die Initiative von Ausländern zurück, die sich in der Schweiz niederliessen. Illustre Beispiele sind die amerikanischen Brüder Charles und George Page, die gemeinsam mit Henri Nestlé den berühmten Nahrungsmittelkonzern gründeten. Oder in jüngerer Zeit Nicolas Hayek, der die Uhrenindustrie in der Schweiz revolutionierte. In der akademischen Welt erhielten mehrere Persönlichkeiten mit ausländischen Wurzeln den Nobelpreis für ihre in der Schweiz durchgeführte Arbeiten.

Weshalb braucht die Schweiz Ausländerinnen und Ausländer? Ein Grund liegt in der bescheidenen Grösse unseres Landes. Unsere Hochschulen können unmöglich alle Studienfächer anbieten, deren Kenntnisse später im Berufsleben zur Entwicklung innovativer komplexer Hightech-Produkte erforderlich sind. Auch hat die Schweiz nicht genügend junge Leute, die begabt und gleichzeitig interessiert sind, diese Lücke durch ein Studium im Ausland zu schliessen, um danach in der Schweiz tätig zu sein. Diesen Nachteil kompensiert die Schweiz derzeit einerseits mit der Anstellung von Spezialistinnen und Spezialisten aus aller Welt, andererseits durch internationale Forschungskooperationen, z. B. durch das EU Forschungsprogramm Horizon 2020.

Die geringe Grösse der Schweiz hat jedoch auch Vorteile. Im Vergleich zur Konkurrenz in grossen Ländern können sich unsere Unternehmen auf Nischenmärkte konzentrieren, in denen sich Spitzenqualität auszahlt. Dadurch ermöglichen sie im Hochpreisland Schweiz die Schaffung von Arbeitsplätzen auf allen Anforderungsstufen, da Entwicklung und Produktion zum grössten Teil im Inland erfolgen.

In der nahen und ferneren Zukunft wird die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz, ebenso wie die Beschäftigungslage für die nächsten Generationen, noch stärker von der Innovationsfähigkeit unserer Industrie und unserer Forschungseinrichtungen abhängen. Denn in einer globalisierten Welt wird sich der Wettbewerb mit rasch aufstrebenden neuen Wirtschaftsmächten weiter verschärfen. Gewinnen wird nur, wer der Konkurrenz stets einen Schritt voraus ist. Deshalb brauchen wir alle im Land verfügbaren Kräfte, zusätzlich aber auch gescheite Köpfe und geschickte Hände aus dem Ausland, die allfällige Lücken schliessen.

Eine Initiative wie Ecopop gefährdet mit der Begrenzung der Einwanderung ein System, das sich bisher bestens bewährt hat. Besonders hart würde die Annahme der Initiative die Hochschulen und Forschungsinstitute treffen, da Wirtschaft und Tourismusbranche aus kurzfristigen wirtschaftlichen Überlegungen bei den Kontingenten automatisch Vorrang hätten. Allein am PSI beträgt die übliche gewollte Fluktuation beim wissenschaftlichen Personal über 10 % des Gesamtbestandes pro Jahr. Dies entspricht 200 Personen, von denen die Hälfte aus dem Ausland stammt. Mit den vorgesehenen Kontingenten wird es für das PSI nicht mehr möglich sein, die notwendige Zahl von Spezialistinnen und Spezialisten zu rekrutieren. Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass der Familiennachzug massiv erschwert wäre, da bei hochqualifizierten ausländischen Paaren in der Regel beide Partner eine Karriere verfolgen und diese dann nur mit Mühe zwei Arbeitsbewilligungen gleichzeitig erhielten. Welcher weltweit gefragte Spezialist wäre bereit, eine Stelle in der Schweiz anzunehmen, wenn der Ehepartner dadurch seine Karriere aufgeben müsste oder, um dies zu vermeiden, gar nicht erst mit umziehen würde?

Zum ersten Mal in meiner Zeit als Direktor des PSI erlebe ich dieser Tage, dass Spitzenforschende ein Arbeitsangebot aus der Schweiz ablehnen, weil sie an der langfristigen Attraktivität oder Berechenbarkeit unseres Landes zweifeln. Diese Einschätzung beruht bisher nicht auf Fakten, sondern auf persönlichen Wahrnehmungen. Doch der Imageschaden für die Schweiz scheint schon eingetreten zu sein, und bei einer Annahme der Ecopop-Initiative wird sich diese Situation weiter zuspitzen.

Das Fortbestehen sämtlicher Forschungsbereiche des PSI wäre durch die fehlenden Rekrutierungsmöglichkeiten in Gefahr – dazu gehört auch das im Laufe von 30 Jahren erworbene Know-how im Zentrum für Protonentherapie. Wenn das PSI aber seine Forschungstätigkeit mangels Spezialisten einschränken müsste, hätte dies auch für die Region einschneidende Folgen: Direkt in Form eines Stellenabbaus über alle Infrastruktur- und Dienstleistungstätigkeiten am PSI und indirekt bei den KMU, die als Hightech-Unternehmen vom Know-how-Transfer aus dem PSI profitieren oder als Gewerbetreibende bisher Auftragnehmer des PSI sind. Das Beispiel PSI ist beliebig auf jeden anderen Kanton mit Forschungsinstituten oder Hochschulen übertragbar. Die jetzt schon erkennbare kurzfristige Auswirkung – durch den entstandenen Imagschaden sind Spezialisten schwieriger zu rekrutieren – wird sich weiter verschärfen. Die mittel- und langfristige Abwärtsspirale, mit kaum korrigierbaren Folgen,wird sich allerdings erst in 5 oder 10 Jahren schmerzhaft bemerkbar machen. Wer von den Stimmbürgern und Stimmbürgerinnen, die heute abstimmen, ist dann noch bereit, die Verantwortung für eine solche Entwicklung zu übernehmen?

Auch ausserhalb der Wissenschaft wären die Folgen langfristig verheerend, denn die meisten technologischen Fortschritte der Schweizer Industrie beruhen auf Grundlagenforschung aus öffentlichen Forschungseinrichtungen. Wollen wir diese Nische wirklich anderen Industrieländern überlassen? Glauben wir ernsthaft, dass die Schweiz in sogenannten Lowtech-Segmenten mit Ländern wie China oder Indien mithalten könnte?

Bei einer Annahme der Ecopop-Initiative besteht die grosse Gefahr, dass die Schweiz wegen mangelnder Innovationskraft mittel- bis langfristig in die zweite Liga der Wirtschaftsmächte absteigt. Dies hätte fatale Folgen für unsere Gesellschaft, unseren Lebensstandard, unsere Beschäftigungsaussichten und damit für die Zukunft unserer Kinder.

Das Erfolgsmodell Schweiz ist das Ergebnis eines fein austarierten Gleichgewichts, das sich im Laufe mehrere Jahrzehnte eingependelt hat. Wir sollten darauf verzichten, in einem waghalsigen Experiment mehrere wesentliche Elemente dieses Gleichgewichts gleichzeitig und grundlegend zu verändern.

Joël Mesot, Direktor Paul Scherrer Institut


Über Joël Mesot

Joël Mesot ist seit 2008 Direktor des Paul Scherrer Instituts in Villigen/Würenlingen AG. Das PSI gehört zum ETH-Bereich, ebenso wie die Forschungseinrichtungen Eawag, Empa und WSL sowie die beiden Eidgenössischen Hochschulen in Zürich und Lausanne, an denen Mesot eine Doppelprofessur innehat.

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