«Das ist unglaublich ambitioniert»

Alle drei Jahre lotet der Weltenergierat in verschiedenen Szenarien mögliche Entwicklungen des globalen Energiesystems aus. Tom Kober, Leiter der PSI-Forschungsgruppe Energiewirtschaft und einer der Hauptautoren der Studie, erklärt, was die einzelnen Projektionen bedeuten und wie sich die Klimaerwärmung reduzieren liesse.

Tom Kober, Leiter der Gruppe Energiewirtschaft, Labor für Energiesystemanalysen und einer der Hauptautoren der Weltenergieszenarien, analysiert die globalen Energiesysteme und entwickelt daraus Projektionen für mögliche künftige Entwicklungen.
(Foto: Paul Scherrer Institut/Mahir Dzambegovic)

Herr Kober, auf dem Weltenergiekongress in Abu Dhabi wurden gerade die Weltenergieszenarien vorgestellt. Was ist das eigentlich?

Der Weltenergierat entwickelt seit 2010 diese Weltenergieszenarien und die werden alle drei Jahre veröffentlicht. In drei unterschiedlichen Szenarien beschreiben wir darin das globale Energiesystem und liefern eine Vorstellung davon, wie es sich unter bestimmten Rahmenbedingungen bis 2040 und darüber hinaus weiterentwickeln könnte. Letztlich sollen die Szenarien ein besseres Verständnis dafür schaffen, wie sich die Transformation des Energiesystems abspielt, und die Wechselwirkungen zwischen Technologien, Akteuren, Märkten und der Politik verdeutlichen.

Und welche Szenarien sind das konkret?

Wir gehen von drei unterschiedlichen Szenarien aus, die musikalische Bezeichnungen tragen, um einerseits jedem Szenario eine gewisse Grundstimmung entsprechend des Musikstils zu geben und andererseits, um auszudrücken, dass in jedem Szenario viele verschiedene Spieler agieren und es eine Vielzahl von Wechselwirkungen, Variationen und Facetten gibt. Die drei Szenarien heissen Modern Jazz, Unfinished Symphony und Hard Rock. Wichtig für jedes dieser Szenarien ist, dass ihre Schlussfolgerungen plausibel sind und dass sie auf einem möglichst breiten Fundament aus Daten und Einschätzungen von Mitgliedern des Weltenergierates und anderen Experten basieren.

Was beinhaltet beispielsweise Modern Jazz?

Dieses Szenario legt einen Schwerpunkt auf agile Märkte mit einer hohen Dynamik technischer Innovationen und sogenannten digital-disruptiven Entwicklungen. Letzteres meint, dass sich beispielsweise durch Digitalisierung Verbraucherverhalten sprunghaft und durchgreifend ändert. Das kann sich darin ausdrücken, dass sehr schnell sehr viele Elektroautos gekauft werden. Es kann aber auch bedeuten, dass sich innovative Technologien schneller entwickeln und am Markt durchsetzen, etwa weil sie deutlich effektiver sind, als die bislang genutzten. Vor allem können sich im Szenario Modern Jazz die Märkte vergleichsweise frei entwickeln. Anders als beispielsweise in Unfinished Symphony.

Das von welchen Rahmenbedingungen ausgeht?

In diesem Szenario nehmen Regierungen deutlich grösseren Einfluss auf die Entwicklung des Energiesystems, beispielsweise durch Gesetze, langfristig stabile Rahmenbedingungen und Subventionen. In diesem Szenario kommen also klimapolitische Entscheidungen und andere Nachhaltigkeitsaspekte viel stärker zum Tragen. In diesem Szenario arbeiten unterschiedliche Regionen der Welt koordiniert darauf hin, den Ausstoss von Treibhausgasen zu reduzieren, die Effizienz des Energiesystems zu erhöhen und neue Technologien zu fördern. In Unfinished Symphony agieren die einzelnen Teilnehmer also wesentlich kooperativer.

Und das dritte Szenario?

Hard Rock geht beispielsweise von einem geringeren Wirtschaftswachstum aus als die beiden anderen Szenarien. Die einzelnen Staaten und ihre Wirtschaft sind mehr auf sich bezogen, woraus weniger kooperative Massnahmen und Handel resultieren. In Hard Rock ist die Sicherheit der Energieversorgung von besonderer Bedeutung und Umweltaspekte treten hier – anders als in Modern Jazz oder Unfinished Symphony – eher in den Hintergrund. Aufgrund der eher geringeren internationalen Kooperation finden in diesem Szenario weniger Innovation statt und die Akteure sind eher regional fokussiert und achten stärker darauf, die bestehende Wirtschaft am Laufen zu halten.

Wie sehen die Projektionen denn konkret aus?

Prinzipiell sehen wir, dass sich der globale Energieverbrauch vom Wirtschaftswachstum weiterhin entkoppelt. Das bedeutet, dass wir für ein bestimmtes Wachstum der Wirtschaft immer weniger Energie benötigen. Entsprechend ergibt sich auch ein Maximum des weltweiten durchschnittlichen Pro-Kopf-Energieverbrauchs in den kommenden 10 Jahren und eine Abnahme auf längere Sicht. Allerdings heisst das nicht, dass der Gesamtverbrauch an Energie geringer wird. In Modern Jazz sehen wir einen moderaten Anstieg des Primärenergieverbrauchs bis 2040, in Hardrock einen deutlich stärkeren, weil in diesem Szenario weniger Wert auf Energieeffizienz gelegt wird. In Unfinished Symphony, mit mehr Einflussnahmen von Regierungen und übergeordneter Kooperation zum Zweck des Klimaschutzes, sehen wir, dass der Energieverbrauch annähernd auf heutigem Niveau bleibt. In diesem Szenario sinkt also der Energieverbrauch pro Kopf langfristig stärker als in den anderen beiden Szenarien.

Gibt es denn weitere generelle Entwicklungen, die für alle drei Szenarien gelten?

Da ist zum Beispiel die zunehmende Bedeutung von Elektrizität. Gegenüber 2015, wo Strom einen Anteil von 17 Prozent am weltweiten Endenergieverbrauch hatte, steigt dieser Anteil bis 2040 auf 20 Prozent in Hard Rock beziehungsweise auf 31 Prozent in Unfinished Symphony. Vor allem in Unfinished Symphony ist Strom eine wichtige Komponente bei der sogenannten Dekarbonisierung des Energiesystems, insbesondere der Energienachfragesektoren. Es wird also der Ausstoss von klimaschädlichen Gasen wie CO2 deutlich reduziert, indem Wärme und Mobilität nicht mit fossilen Energieträgern bereitgestellt wird, sondern durch Technologien basierend auf Strom beziehungsweise emissionsarme Energieträger. Das setzt natürlich voraus, dass Strom weitestgehend CO2-arm produziert wird. Entsprechend sehen wir im Szenario Unfinished Symphony einen Anstieg der weltweiten Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien auf 43 Prozent bis 2040. Aber auch Kernkraftwerke und Kraftwerke mit CO2-Abtrennung und anschliessender Wiederverwendung beziehungsweise Speicherung von CO2 leisten wichtige Beiträge im globalen Massstab. Dies bedarf natürlich entsprechender energiewirtschaftlicher Rahmenbedingungen.

Gibt es generelle Entwicklungen für Europa?

Neben dem Ausbau erneuerbarer Energien und einer Zunahme der Bedeutung von Strom sehen wir gutes Energieeinsparpotenzial in den Verbrauchssektoren, was letztendlich zu einer Abnahme des Endenergieverbrauchs führt. Wichtige Energietechnologien sind dabei Wärmepumpen genauso wie Elektromobilität und andere stromgeführte Anwendungen. Hinsichtlich der Abnahme des Endenergieverbrauchs unterscheidet sich Europa beispielsweise von Asien, wo einerseits ein stärkeres Wachstum zu verzeichnen ist und andererseits fossile Energieträger noch länger eine grössere Bedeutung haben. Aufgrund des starken Wachstums sind in Asien die grössten Investitionen ins Energiesystem notwendig. Etwa 50 Prozent der weltweiten Investitionen für die Strombereitstellung werden dort in den kommenden Jahrzehnten benötigt.

Lässt sich sagen, dass das derzeitige globale Energiesystem Elemente aus allen drei Szenarien enthält?

Ganz genau. Wir sehen derzeit Elemente aller drei Szenarien, wobei es da regional unterschiedliche Ausprägungen gibt. Es gibt sehr dynamische Märkte mit vielen Innovationen, zum Beispiel im Bereich Smart-Cities, wo intelligent vernetzte Verbrauchs- und Erzeugungsmanagementsysteme und Speichertechnologien zum Einsatz kommen – das wäre dann «Modern Jazz». Unfinished Symphony sehe ich da, wo koordinierte energiepolitische Massnahmen umgesetzt werden, wie zum Beispiel länderübergreifende Emissionsstandards für Fahrzeuge oder umfassende und effektive Handelssysteme für Emissionszertifikate. Man kann aber auch Hard-Rock-Tendenzen beobachten – gerade dort, wo der freie Handel eingeschränkt wird und Protektionismus anderen Zielen vorangestellt wird.

Die Weltenergieszenarien beziehen sich auf die Zukunft. Das ist immer mit Unsicherheiten behaftet. Welche sind das?

Generell ist ein wichtiges Kriterium für die weitere Entwicklung die Verfügbarkeit von Kapital. Wenn kein Kapital für Investitionen vorhanden ist, dann werden sich bestimmte Entwicklungen nicht abspielen und es werden sich bestimmte Strukturen im Energiesystem nicht einstellen. Das ist insbesondere von Bedeutung, wenn Technologien mit hohen Kapitalkosten bei moderaten Betriebskosten solche Technologien ersetzen sollen, die vergleichsweise geringe Kapitalkosten, aber hohe Betriebskosten haben. Dies ist oft der Fall, wenn emissionsintensive Energieanwendungen auf Basis von Öl, Gas oder Kohle durch emissionsarme Technologien ersetzt werden sollen. Wenn nicht die geeigneten Finanzierungsmechanismen zur Verfügung stehen, wird das begrenzt vorhandene Kapital genutzt, um die Betriebskosten des bestehenden Systems zu decken, anstatt in neue Technologien zu investieren.

Der Bericht geht davon aus, dass in keinem der Szenarien das Ziel der Weltklimakonferenz von Paris eingehalten wird. Demnach sollte die Erwärmung der Atmosphäre unter zwei Grad Celsius gehalten werden. Stimmt das nicht pessimistisch?

Immerhin sind wir mit dem Szenario Unfinished Symphony auf einem Emissionspfad, der dazu führt, dass sich die Atmosphäre nur um etwas mehr als zwei Grad Celsius erwärmt. Wenn wir in Richtung einer deutlicheren Drosselung kommen wollen, also beispielsweise auf eine maximale Erwärmung um 1,5 Grad, dann müssten wir bis zum Jahr 2060 die energiebedingten Treibhausgasemissionen auf null bringen. Das ist unglaublich ambitioniert. Man braucht dafür mindestens 15 Prozent mehr Energie-Effizienz im Vergleich zu Unfinished Symphony und mehr CO2-freie Stromerzeugung. Wir benötigen sogar Technologien, die es ermöglichen, CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen. Das ginge zum Beispiel mit Energie aus Biomasse, die zur Stromerzeugung genutzt wird, wobei das dabei entstehende CO2 dann gespeichert wird. Damit liessen sich sogar Treibhausgasemissionen aus anderen Bereichen wie der Landwirtschaft kompensieren.

Weshalb ist das PSI an der Entwicklung der Weltenergieszenarien so stark beteiligt?

Im Labor für Energiesystemanalysen des PSI haben wir über die vergangenen Jahre ein computergestütztes Modell des weltweiten Energiesystems aufgebaut und kontinuierlich weiterentwickelt und wenden dies für die Weltenergieszenarien an. Im Prinzip handelt es sich dabei um eine Computersimulation mithilfe derer wir die komplexen Sachverhalte hinter den Szenarien quantifizieren. Dieses Modell – das Global MARKAL Model, kurz GMM – bildet die heutigen Strukturen des Energiesystems mit seinen Wechselwirkungen ab sowie eine Vielzahl möglicher zukünftiger Optionen für die Energieversorgung, angefangen von der Ressourcengewinnung bis hin zum Endverbrauch – die ganze Versorgungskette also. Entsprechend lassen sich langfristige Entwicklungen des Energiesystems ablesen, wobei wir sowohl die Zielpunkte einer Entwicklung analysieren als auch den Transformationsprozess, der zu den neuen Strukturen führt. GMM basiert auf vielen technischen und ökonomischen Daten, die uns dann erlauben, nicht nur qualitative Aussagen treffen zu können, sondern vor allem quantitative, also auf konkreten Zahlen basierende Aussagen.

Interview: Paul Scherrer Institut/Sebastian Jutzi

Weiterführende Informationen

World Energy Council
Der Weltenergierat ist eine weltweite Organisation mit Mitgliedsausschüssen in über 90 Ländern. Mitglieder sind vor allem grosse Energieproduzenten und -händler sowie einige Regierungsorgane, Forschungs- und Energieverbraucherorganisationen. Er veröffentlicht die Weltenergieszenarien, deren aktuelle Version jetzt auf dem Weltenergiekongress 2019 in Abu Dhabi vorgestellt wurde.

World Energy Council: https://www.worldenergy.org/
World Energy Congress: https://www.worldenergy.org/experiences-events/world-energy-congress

Die Weltenergieszenarien
Alle drei Jahre werden die Weltenergieszenarien in einer aktuellen Version veröffentlicht. Daran arbeiten Mitglieder des Weltenergierates, Mitarbeiter von Accenture, einem der weltweit grössten Managementberatungs-, Technologie- und Outsourcing-Dienstleister, und des Paul Scherrer Instituts PSI.

Kontakt/Ansprechpartner

Dr. Tom Kober
Leiter der Gruppe Energiewirtschaft
Labor für Energiesystemanalysen
Paul Scherrer Institut, Forschungsstrasse 111, 5232 Villigen PSI, Schweiz
Telefon: +41 56 310 26 31, E-Mail: tom.kober@psi.ch [Deutsch, Englisch]