Am CERN, der Europäischen Organisation für Kernforschung in Genf, werden buchstäblich grosse Zukunftspläne geschmiedet: Ein neuer Teilchenbeschleuniger steht an. Der Future Circular Collider (FCC) soll mit 91 Kilometer Umfang die grösste Maschine werden, die je von Menschenhand gebaut wurde. Als wichtiges Mitglied des Swiss Institute of Particle Physics wird auch das Paul Scherrer Institut PSI an diesem Projekt mitwirken. Lea Caminada, Leiterin der Gruppe für Hochenergiephysik am PSI, über den Stand des Vorhabens.
Frau Caminada, der FCC scheint machbar. Zu diesem Ergebnis kommt der Zwischenbericht einer vom CERN-Rat in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie. CHIPP spricht von Aufbruchsstimmung. Das sind viele Abkürzungen, mit denen die meisten Schweizerinnen und Schweizer wohl wenig anfangen können. Bitte klären Sie uns auf: Was ist der FCC, wer ist CHIPP, was stand in dem Zwischenbericht – und warum sind alle so euphorisiert?
Lea Caminada: Stimmt, das muss man erklären. Wir Physikerinnen und Physiker lieben nun mal Abkürzungen. Also: CERN ist die Europäische Organisation für Kernforschung in Genf, das den Large Hadron Collider (LHC) betreibt, den mit einem Umfang von 27 Kilometern derzeit grössten Beschleuniger zur Erforschung von Elementarteilchen. Das obere Leitungsgremium des CERN, der CERN-Rat, hat eine Machbarkeitsstudie für einen noch viel grösseren Beschleuniger in Auftrag gegeben: den Future Circular Collider, kurz FCC, mit 91 Kilometern Umfang. Und CHIPP ist das Swiss Institute of Particle Physics. Darin sind alle Institutionen der Schweiz vertreten, die etwas mit der Physik der Elementarteilchen zu tun haben, also jenen Bausteinen, aus denen unsere Welt besteht. CHIPP koordiniert diese Forschung in der Schweiz und das PSI spielt darin eine wichtige Rolle.
Nun zu der Machbarkeitsstudie. Die Botschaft des Zwischenberichts lautet: Der Future Circular Collider (FCC) ist machbar, es gibt keine technischen oder organisatorischen Gründe, die dagegensprächen. Das ist keineswegs selbstverständlich und deshalb sind alle so euphorisiert. Der FCC wäre die grösste Maschine, die Menschen je gebaut haben. Der Tunnel läge 200 Meter unter der Erdoberfläche und verliefe teilweise unter dem Genfersee. Die Herausforderungen wären also enorm – aber zu bewältigen, wie die Studie zeigt.
Der FCC wäre technisch also machbar, aber auch bezahlbar?
Der FCC würde Stand heute 15 Milliarden Schweizer Franken kosten. 150 Institute aus 30 Ländern sind am CERN an den Planungen beteiligt. In Betrieb gehen würde der FCC auch erst Mitte der 2040er-Jahre. Ob er gebaut wird, werden die kommenden Jahre zeigen. Es sind noch andere Konzepte im Rennen. Die Machbarkeitsstudie wurde vom CERN-Rat in Auftrag gegeben. Sie bildet die Grundlage für die Zukunft der Teilchenphysik. In Europa finden die Beratungen zur strategischen Ausrichtung der Teilchenphysik koordiniert statt; das nächste Update dazu soll 2027 erfolgen. Die derzeitigen Prioritäten der Beratungen liegen in der vollständigen Ausschöpfung des wissenschaftlichen Potenzials des LHC, dicht gefolgt von einer sogenannten Higgs-Fabrik zur Erforschung des Higgs-Bosons sowie des elektroschwachen Sektors, der Flavourphysik und der Physik der Top-Quarks. Alle diese Forschungsfelder würde der FCC abdecken, weshalb ich glaube, dass das Vorhaben gute Chancen hat.
15 Milliarden Schweizer Franken sind eine Menge Geld. Angesichts dieser Summe muss die Frage erlaubt sein: Was ist der Nutzen des FCC?
Wir profitieren vom FCC auf mehreren Ebenen. Da wäre zum einen die Grundlagenforschung, also die Teilchenphysik: Unser Standardmodell, das alle Elementarteilchen und Kräfte enthält, hat sich sehr gut bewährt. Aber es gibt Lücken. So sagt das Standardmodell nur etwas über die Materie aus, das sind aber nur vier Prozent der Masse im Universum. Was ist der grosse Rest? Dazu haben wir bisher nur Vermutungen, die wir mit den bestehenden Beschleunigern wie dem LHC nicht beantworten können. Dafür brauchen wir Maschinen mit höheren Energien.
Und was ist der anwenderorientierte Nutzen?
Für den FCC entwickelt das PSI Technologien, darunter Magnete und Detektoren, die wir auch in anderen Bereichen nutzen können, wie beispielsweise hier am PSI für die Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS 2.0. Der FCC benötigt Magnete mit einer Feldstärke von rund 16 Tesla, das Doppelte des derzeitigen LHC. Diese Magnete sollen aus Hochtemperatur-Supraleitern bestehen, die besonders wenig Energie benötigen. Das gibt es in dieser Grössenordnung heute noch nicht, könnte aber für viele Anwendungen interessant sein, etwa in der Materialforschung oder in der Medizin. Diese Technologien werden in der CHART-Kollaboration entwickelt (Swiss Accelerator Research and Technology), an der neben dem PSI auch die ETH Lausanne EPFL, die ETH Zürich, die Universität Genf und das CERN beteiligt sind. Auch die Entwicklung der Technologie für die Detektoren des neuen Teilchenbeschleunigers wird für Innovationen und neue Anwendungen sorgen. Ein Thema ist dabei die Nachhaltigkeit. Der FCC soll nicht mehr Energie verbrauchen als der LHC. Das sind alles Technologien, die es zum Teil noch gar nicht gibt, die aber auch für Anwendungen in der Industrie einmal wichtig sein könnten.
Gibt es auch Vorteile für die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt?
Die Schweizer Wirtschaft profitiert auf jeden Fall. Viele Unternehmen waren am Bau des LHC beteiligt, das hat Arbeitsplätze geschaffen – vor allem in der Region um Genf ist das ein erheblicher Wirtschaftsfaktor. Zudem bilden Institutionen wie das CERN oder das PSI Tausende von hoch spezialisierten Personen in verschiedenen Berufsgruppen aus – zum Beispiel in den Ingenieur- und Naturwissenschaften, auf die ein Hightech-Land wie die Schweiz dringend angewiesen ist.
Lassen Sie uns ein wenig in die Physik eintauchen. Was kann der FCC, was der LHC und sein Vorgänger, der LEP-Beschleuniger, nicht konnten?
Der FCC ist eigentlich zwei Beschleuniger in einem. Die erste Ausbaustufe, die Mitte der 2040er-Jahre in Betrieb gehen könnte, nennen wir FCC-ee. Dort schiessen wir Elektronen und Positronen aufeinander, so wie das früher beim LEP (Large Electron-Positron Collider) der Fall war. Allerdings ist die Energie viel höher: Beim LEP, der von 1989 bis 2000 am CERN in Betrieb war, waren es 209 Gigaelektronenvolt, beim FCC-ee wären es 365 Gigaelektronenvolt. Der wichtigere Parameter ist allerdings die Luminosität, ein Mass für die gesammelte Datenstatistik im Experiment. Der FCC-ee könnte in wenigen Stunden so viele Daten sammeln, wie der LEP während seiner gesamten Betriebszeit. Wir könnten also das W- und das Z-Boson genauestens untersuchen – das sind die beiden Elementarteilchen, welche die schwache Wechselwirkung, eine der fundamentalen Grundkräfte der Physik, übertragen. Da die Kollisionsenergie am FCC justiert werden kann, können wir in Elektron-Positron-Kollisionen erstmals auch das Higgs Boson sowie die Top-Quarks, die bisher schwersten bekannten Elementarteilchen, in grosser Zahl erzeugen.
Und was wäre die zweite Ausbaustufe?
Die nennen wir FCC-hh. Dieses Upgrade könnte um 2070 in Betrieb gehen, im selben Tunnel wie FCC-ee. Das wäre ein Hadronen-Collider, mit dem wir Protonen oder schwerere Atomkerne aufeinander schiessen, also ähnlich wie beim LHC, aber ebenfalls mit viel höheren Energien: 100 Teraelektronenvolt beim FCC-hh statt 14 Teraelektronenvolt, die wir bei der kommenden Ausbaustufe des LHC erreichen werden. Das Higgs Boson kann auch beim FCC-ee massenhaft erzeugt werden. FCC-hh ist dagegen die «Entdeckungsmaschine», sie erlaubt es, in neuen Energiebereichen nach neuen, exotischen Teilchen zu suchen. Der FCC-ee misst sehr präzise, weil Elektronen und Positronen elementare Teilchen sind. Die Kollisionen von Protonen oder schwereren Atomkernen im FCC-hh liefern jedoch Daten, die schwerer zu interpretieren sind, dafür aber mit höheren Energien. Mit dem FCC könnten wir also beides machen.
Was passiert noch bis zur Vielleicht-Inbetriebnahme des FCC?
Die Studie kommt einhellig zu dem Schluss, dass wir bis 2040, dem voraussichtlichen Ende des LHC, das Maximale aus dieser Anlage herausholen müssen. Derzeit sind wir in der dritten Betriebsphase vom LHC. Von 2026 bis 2028 planen wir eine Betriebspause, in der wir die Beschleuniger und die Detektoren aufrüsten. Das liefert bis zu zehn Mal mehr Daten – wir sehen also viel mehr Teilchenkollisionen und können unsere Modelle in der vierten Betriebsphase genauer prüfen.
Als wichtiges Mitglied von CHIPP ist das PSI einer der Treiber des FCC. Woran arbeiten Sie derzeit mit Ihrem Team, was wir vielleicht einmal im FCC sehen werden?
Unsere Spezialität am PSI ist die Entwicklung von Pixeldetektoren, da sind wir weltweit führend. Wir haben beispielsweise den Pixeldetektor für das CMS-Experiment am LHC entwickelt – ein Experiment zur Untersuchung der Struktur der Materie bei den höchsten derzeit im Labor verfügbaren Energien. Dieser Detektor misst den Ort, an dem die Kollisionen stattfinden. Man kann ihn sich wie eine mehrlagige, superschnelle Digitalkamera vorstellen. Um hohe Präzision zu erreichen, muss sich der Pixeldetektor nah am Kollisionspunkt befinden und sehr dünn aufgebaut sein, sodass die entstandenen Teilchen möglichst ungehindert durch ihn hindurchfliegen können. Im Vergleich zum LHC erfordert der FCC-ee eine höhere Genauigkeit und deshalb wollen wir Detektoren bauen, die dünner sind und kleinere Pixel aufweisen. Dazu benutzen wir Technologien, die Sensoren und Elektronik auf einem sogenannten Wafer vereinen, quasi einer sehr dünnen Scheibe aus Halbleitermaterial, wie sie als Grundlage für Computerchips Verwendung finden. Ausserdem wollen wir zusätzlich den Zeitpunkt messen können, wann ein Teilchen durch den Detektor fliegt. Dazu müsste die Uhr, die Beschleuniger und Detektor miteinander synchronisiert, auf eine billionstel Sekunde genau eingestellt sein. Die Zeitmessung erlaubt uns neben dem Impuls auch die Art der Teilchen zu bestimmen.
Sie sind erst 42 Jahre alt, dennoch würden Sie nach der Einweihung des FCC direkt in Rente gehen. Sie werden also voraussichtlich niemals selbst am FCC forschen. Was motiviert Sie dennoch, an diesem Projekt mitzuarbeiten?
Erst einmal bin ich davon überzeugt, dass Grundlagenforschung einen Wert hat. Wir wollen wissen, wie die Welt aufgebaut ist. Aus dieser Neugier wird Neues entstehen. Und durch die Langfristigkeit der Projekte ist es wichtig, dass wir uns jetzt engagieren. Das treibt auch die rund 4000 Forschenden an, die an so einem Projekt mitarbeiten. Ausserdem finde ich es hoch spannend, was ich alles gestalten kann, von einer Zeichnung auf einem Blatt Papier bis zur grössten Maschine der Welt.
Interview: Bernd Müller
© Das PSI stellt Bild- und/oder Videomaterial für eine Berichterstattung über den Inhalt des obigen Textes in den Medien kostenfrei zur Verfügung. Eine Verwendung dieses Materials für andere Zwecke ist nicht gestattet. Dazu gehören auch die Übernahme des Bild- und Videomaterials in Datenbanken sowie ein Verkauf durch Dritte.
Kontakt
Prof. Dr. Lea Michaela Caminada
Hochenergiephysik
+41 56 310 52 34
lea.caminada@psi.ch [Deutsch, Englisch]
Weitere Artikel zum Thema
Über das PSI
Das Paul Scherrer Institut PSI entwickelt, baut und betreibt grosse und komplexe Forschungsanlagen und stellt sie der nationalen und internationalen Forschungsgemeinde zur Verfügung. Eigene Forschungsschwerpunkte sind Zukunftstechnologien, Energie und Klima, Health Innovation und Grundlagen der Natur. Die Ausbildung von jungen Menschen ist ein zentrales Anliegen des PSI. Deshalb sind etwa ein Viertel unserer Mitarbeitenden Postdoktorierende, Doktorierende oder Lernende. Insgesamt beschäftigt das PSI 2200 Mitarbeitende, das damit das grösste Forschungsinstitut der Schweiz ist. Das Jahresbudget beträgt rund CHF 420 Mio. Das PSI ist Teil des ETH-Bereichs, dem auch die ETH Zürich und die ETH Lausanne angehören sowie die Forschungsinstitute Eawag, Empa und WSL. (Stand 06/2023)