Unser Universum besteht aus deutlich mehr Materie, als sich mit bisherigen Theorien erklären lässt. Dieser Umstand ist eines der grössten Rätsel der modernen Wissenschaft. Ein Weg, diese Unstimmigkeit zu klären, führt über das sogenannte elektrische Dipolmoment des Neutrons. Forschende am PSI haben in einer internationalen Zusammenarbeit eine neue Methode entwickelt, die helfen wird, dieses Dipolmoment genauer als je zuvor zu bestimmen. Darüber berichten sie in einer Publikation im Fachblatt Physical Review Letters am 16. Oktober 2015.
Um eine fundamentale Eigenschaft des Neutrons zu bestimmen, haben Forschende einer internationalen Kollaboration am Paul Scherrer Institut PSI erfolgreich eine neue experimentelle Methode entwickelt. Neutronen sind Teile der Atomkerne und damit grundlegende Bausteine der uns umgebenden Materie. Obwohl sie so allgegenwärtig sind, sind noch immer einige ihrer Eigenschaften ungenügend ergründet; darunter auch das sogenannte elektrische Dipolmoment des Neutrons. Dieses Dipolmoment hat weitreichende Auswirkungen für unser Verständnis des Universums: Es könnte helfen zu erklären, weshalb beim Urknall deutlich mehr Materie als Antimaterie entstand.
Philipp Schmidt-Wellenburg vom PSI und seine Kollegen haben die sogenannte Spin-Echo-Methode für die Vermessung langsamer, sich frei bewegender Neutronen adaptiert. Damit haben sie ein neues, nicht-destruktives Bildgebungsverfahren zur hochgenauen Messung der Neutronengeschwindigkeit erschaffen.
Minutenlang jegliche Störung ausgleichen
Schmidt-Wellenburg erklärt das Grundprinzip des Verfahrens mit der Analogie eines Wettlaufs durch unbekanntes Terrain: Wir schicken Neutronen – ähnlich wie Läufer – mit einer Art Startschuss los. Nach einer bestimmten Zeit lassen wir sie mittels eines zweiten Signals umkehren.
Wie ein Echo kehren die Neutronen dann alle zum Ausgangspunkt zurück. Die unterschiedliche Zeitverzögerung jedoch, mit der die einzelnen Neutronen zurückkommen, verrät den Forschenden etwas über die Beschaffenheit des Raums, den sie jeweils durchlaufen haben: Würde bei gleich sportlichen Läufern einer später zurückkommen als die anderen, liesse sich ganz ähnlich darauf schliessen, dass es auf seiner Strecke mehr Hindernisse gab.
Grundsätzlich ist die Spin-Echo-Methode nichts Neues. In der Medizin wird sie seit Jahrzehnten in der Magnetresonanztomographie genutzt, wo sie zur Bildgebung von Gewebe und Organen dient. Der Unterschied und damit die grosse Herausforderung für die neue Methode: Die hier verwendeten Neutronen sind extrem langsam und werden minutenlang beobachtet. Solche langsamen Neutronen nennt man auch ultrakalte Neutronen. Ihr Einsatz wiederum hat zur Folge, dass alle experimentellen Rahmenbedingungen über vergleichsweise lange Zeiträume von mehreren Minuten extrem stabil gehalten werden müssen. Unter anderem müssen wir ständig jede noch so winzige Änderung des Magnetfeldes ausgleichen. Die kann beispielsweise schon dadurch zustande kommen, dass ein Lastwagen auf der nahegelegenen Landstrasse vorbeifährt
, veranschaulicht Schmidt-Wellenburg den Genauigkeitsgrad des Experiments.
Messungen mit der neuen Methode laufen bereits
All dies ist nötig, um das elektrische Dipolmoment des Neutrons genauer als bisher zu bestimmen. Das vorläufig letzte Experiment zur Vermessung dieser Grösse wurde im Jahr 2006 veröffentlicht. Jedoch ist das Ergebnis von damals noch zu ungenau, als dass sich daraus Schlüsse für die Entstehung des Universums ziehen lassen. Seither mangelte es an Methoden, die eine genauere Messung erlaubten. Diese Lücke haben wir nun mit unserer adaptierten Spin-Echo-Methode für ultrakalte Neutronen geschlossen
, erklärt Schmidt-Wellenburg.
Seit August 2015 laufen am PSI mit dieser neuen Methode Vermessungen von ultrakalten Neutronen. Am PSI befindet sich eine der weltweit intensivsten Quellen für ultrakalte Neutronen. Das hiesige Langzeit-Experiment wird noch rund ein Jahr weiterlaufen müssen, um die nötige Datenmenge zu haben, mit der sich schliesslich das elektrische Dipolmoment des Neutrons genauer als bisher bestimmen lässt. Eines Tages können wir dann hoffentlich erklären, weshalb unser Universum aus so viel Materie besteht – warum sich also nicht kurz nach dem Urknall alle Materie und Antimaterie gegenseitig vernichtet hat
, hofft Klaus Kirch, Laborleiter Teilchenphysik am PSI, der an der Studie beteiligt war.
Die neue Spin-Echo-Methode mit ultrakalten Neutronen lässt sich daneben auch für andere fundamentale Messungen nutzen, beispielsweise zur genaueren Vermessung der Lebensdauer des Neutrons. Ich wage zu behaupten, dass unsere neue Methode in den kommenden zwanzig Jahren in vielen Experimenten mit ultrakalten Neutronen benutzt werden wird
, so Schmidt-Wellenburg.
Text: Paul Scherrer Institut/Laura Hennemann
Über das PSI
Das Paul Scherrer Institut PSI entwickelt, baut und betreibt grosse und komplexe Forschungsanlagen und stellt sie der nationalen und internationalen Forschungsgemeinde zur Verfügung. Eigene Forschungsschwerpunkte sind Materie und Material, Energie und Umwelt sowie Mensch und Gesundheit. Die Ausbildung von jungen Menschen ist ein zentrales Anliegen des PSI. Deshalb sind etwa ein Viertel unserer Mitarbeitenden Postdoktorierende, Doktorierende oder Lernende. Insgesamt beschäftigt das PSI 1900 Mitarbeitende, das damit das grösste Forschungsinstitut der Schweiz ist. Das Jahresbudget beträgt rund CHF 380 Mio.
(Stand 04/2015)
Weiterführende Informationen
Suche nach dem elektrischen Dipolmoment des Neutrons am PSIKontakt / Ansprechpartner
Dr. Philipp Schmidt-Wellenburg, Labor für Teilchenphysik, Paul Scherrer Institut,Telefon: +41 56 310 56 80, E-Mail: philipp.schmidt-wellenburg@psi.ch
Prof. Dr. Klaus Kirch, Labor für Teilchenphysik, Paul Scherrer Institut,
Telefon: +41 56 310 32 78, E-Mail: klaus.kirch@psi.ch
Originalveröffentlichung
Observation of gravitationally induced vertical striation of polarized ultracold neutrons by spin-echo spectroscopyS. Afach, N.J. Ayres, G. Ban, G. Bison, K. Bodek, Z. Chowdhuri, M. Daum, M. Fertl, B. Franke, W.C. Griffith, Z.D. Grujic, P.G. Harris, W. Heil, V. Hélaine, M. Kasprzak, Y. Kermaidic, K. Kirch, P. Knowles, H.-C. Koch, S. Komposch, A. Kozela, J. Krempel, B. Lauss, T. Lefort, Y. Lemière, A. Mtchedlishvili, M. Musgrave, O. Naviliat-Cuncic, J.M. Pendlebury, F.M. Piegsa, G. Pignol, C. Plonka-Spehr, P.N. Prashanth, G. Quéméner, M. Rawlik, D. Rebreyend, D. Ries, S. Roccia, D. Rozpedzik, P. Schmidt-Wellenburg, N. Severijns, J.A. Thorne, A. Weis, E. Wursten, G. Wyszynski, J. Zejma, J. Zenner, and G. Zsigmond,
Physical Review Letters 16 October 2015
DOI: 10.1103/PhysRevLett.115.162502