Fabia Gozzo ist keine Frau für die Komfortzone. Erst machte sie eine Strahllinie an der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS des Paul Scherrer Instituts PSI zu einer weltweit führenden Anlage. Heute stellt sie ihr Wissen mit ihrem Spin-off der Industrie zur Verfügung.
Im Frühling 2012 stand Fabia Gozzo vor einer wichtigen Entscheidung: Sicherheit oder Risiko? Nach zwölf Jahren hatte sie ihren Job am Paul Scherrer Institut gekündigt, um mit ihrer Familie nach Brüssel zu ziehen. Ihr Mann trat dort den Posten als Vizepräsident eines Unternehmens an. Die beiden hatten schon zuvor vereinbart auszuwandern, sollte einer von ihnen eine solch einzigartige Gelegenheit erhalten.
Auch Fabia Gozzo sah sich nach einem Job um. Bald hatte sie das Angebot für eine Stelle als Laborleiterin an einem Brüsseler Institut für Nano- und Mikroelektronik. Es wäre eine vergleichbare Position gewesen wie jene, die sie bis dahin am PSI gehabt hatte. Da fragte ich mich: Will ich dafür die Mühe dieses grossen Umzugs auf mich nehmen?
, erzählt Gozzo heute. Sie fand: Nein. Und gründete stattdessen ihre eigene Firma: Excelsus Structural Solutions.
Schon länger hatte sie die Idee gehabt, ihre Erfahrung in der Analyse von Materialstrukturen, die sie an der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS erworben hatte, der Pharmaindustrie anzubieten. Mit dem Synchrotronlicht lassen sich in Medikamenten kleinste Abweichungen von der gewünschten Festkörperstruktur nachweisen – und so deren Wirkung verbessern. Gozzo und das PSI unterzeichneten eine Vereinbarung zur regelmässigen kommerziellen Nutzung einer Strahllinie an der SLS. Jetzt brauchte Gozzo nur noch Kunden. Sie gab sich zwei Jahre, um zu sehen, ob alles klappen würde.
Es hat geklappt. Sechs Jahre später sitzt Fabia Gozzo, eine elegante 53-Jährige im Frühlingskleid und mit einer Halskette mit baumelndem F
, im deliveryLAB, dem ersten Gebäude des Park innovaare direkt neben dem PSI. Mit Gozzo am Konferenztisch sitzen, vor sich Notizblöcke wie die Chefin, ihre drei Mitarbeitenden: Mathilde Reinle-Schmitt, Pam Whitfield und Mickaël Morin. Vor einer Woche sind sie – mit Ausnahme von Morin, der das Büro hütete – aus den USA zurückgekommen, wo Excelsus eine Konferenz zur Strukturanalyse von amorphen, also nicht kristallisierten, Medikamenten veranstaltete. Pharmazeutische Wirkstoffe in Kristallform sind stabiler, wirken manchmal aber noch ungenügend. Gozzo sieht hier ein neues Geschäftsfeld.
In diesem Meeting überlegt sie deshalb mit ihrem Team, welche Forschenden sie einbinden wollen, um demnächst standardisierte Prozeduren für das neue Anwendungsgebiet zu verfassen. Für ein Schweizer Pharmaunternehmen führen sie zudem bald eine erste solche Messung am Diamond
-Synchrotron nahe Oxford durch.
Lasst uns die Messungen dreimal wiederholen
, schlägt Senior Scientist Pam Whitfield vor. Dann sind wir uns ganz sicher.
Das ist zwar nicht das einzige Kriterium
, sagt Gozzo. Strahlzeiten sind teuer. Spitzenqualität ist ein Muss, Redundanz zulasten der Kunden jedoch ein No-Go. Weil es sich aber um eine neue Methode handelt, entschliesst sich die Runde am Ende doch zu drei Proben. Excelsus wird die Mehrkosten übernehmen. Wir bieten Spitzentechnologie an
, erklärt Gozzo die riskante Entscheidung. Wenn wir uns nicht bewegen, sind wir in zwei Jahren weg vom Fenster.
Mit eiserner Disziplin
Fabia Gozzo sagt, sie könne hochgradig zerstreut sein: Ständig verlege sie Brillen und Schlüssel. Doch dort, wo es zählt, ist die Physikerin voll da. Wenn man sich für etwas entschieden hat, sind weitere Zweifel sinnlos
, sagt sie. Deshalb bin ich mit 200 Stundenkilometern unterwegs.
Wenn man sich für etwas entschieden hat, sind weitere Zweifel sinnlos.
Diese Eigenheit half der gebürtigen Italienerin mit Schweizer Pass auch, als sie 1998 ans PSI kam. Nach einem Physikstudium im süditalienischen Bari und der Dissertation an der ETH Lausanne hatte sie ihren Postdoc am Synchrotron im kalifornischen Berkeley absolviert und danach ein Spektromikroskop mitentwickelt, mit dem sich die neusten Intel-Computerchips auf kleinste Verunreinigungen untersuchen liessen. Für den Bau der SLS kehrte Gozzo in die Schweiz zurück. Ihr Job: die kommerzielle Nutzung des nagelneuen Synchrotrons voranzutreiben. Doch es war zu früh dafür
, erinnert sich Gozzo. Die Forscher waren immer noch damit beschäftigt, die Anlage in Betrieb zu nehmen.
Also fragte die damalige SLS-Projektleitung Gozzo an, ob sie stattdessen die SLS-Experimentierstation zur Pulverdiffraktion aufbauen könne. Deren geplanter Leiter war kurzfristig ausgefallen. Gozzo sagte zu, obwohl es nicht ihr Spezialgebiet war. Christoph Quitmann, der zur selben Zeit ebenfalls aus den USA an die SLS kam, erinnert sich: Die eine Hälfte der Physiker sagten: Fabia, wir trauen dir das zu. Die anderen sagten: Die hat keine Ahnung.
Gozzo baute eine Anlage, die heute zu den besten weltweit zählt. Möglich war das dank ihrem technischen Können – und ihrer eisernen Disziplin.
Man ahnt diese Disziplin auch, wenn man hört, wie Gozzo ab 2012 Excelsus Structural Solutions aufbaute. Nach dem Familienumzug nach Brüssel arbeitete sie zunächst von der neuen Wohnung aus. Am Nachmittag machte ihre Tochter neben ihr Schulaufgaben. Selbst für kleine Messaufträge fuhr Gozzo jedes Mal mit dem Auto acht Stunden von Brüssel ans PSI und zurück – für Flüge reichte das Budget anfangs nicht. Doch langsam wuchs der Kundenstamm; und damit auch Excelsus. Nachdem Gozzo ein kleines Team von PSI-Postdoktorierenden, unter anderem Mathilde Reinle-Schmitt, zusammengestellt hatte, erweiterte sie dieses 2017 um die erfahrene Pam Whitfield. Die Engländerin hatte zwanzig Jahre lang in Kanada ein Labor zur Untersuchung von Kristallstrukturen geleitet und danach für fünf Jahre eine Neutronen-Strahllinie am Oak Ridge National Laboratory, USA, geführt.
Zwischen Wirtschaft und Wissenschaft
Auch ohne Gozzo, die alle paar Wochen aus Brüssel anreiste, wurde es im Excelsus-Büro, das damals noch in einem Postdoc-Raum nahe der SLS einquartiert war, langsam zu eng. Also zog die Truppe 2016 in das deliveryLAB ein. In räumlicher Nachbarschaft profitiert die Firma noch mehr vom exzellenten Kontakt mit der SLS-Belegschaft: Wenn ein kurzfristiger Auftrag hineinkommt, findet sich fast immer ein Zeitfenster, während dessen sie an der SLS messen können.
Fabia Gozzo gibt sich sichtlich Mühe, ein angenehmes Arbeitsklima zu schaffen. Das Excelsus-Büro ist stilvoll mit ovalem Holztisch, rotem Kühlschrank und roter Kaffeemaschine ausgestattet. Mathilde Reinle-Schmitt, die kürzlich Mutter wurde, arbeitet teilweise von Zuhause aus, ebenso wie Fabia Gozzo, die Anfang Jahr mit ihrer Familie nach Lausanne gezogen ist – wieder bedingt durch eine neue Anstellung ihres Mannes.
Doch so erfolgreich Excelsus ist – die Firma ist einem harten Markt ausgesetzt. Mit ihrem vergleichsweise kleinen Unternehmen kann Gozzo bei Zahlungsverzögerungen von Kunden kaum mehrere Monate auf grössere Summen warten. Zudem muss Excelsus seine Methoden den neusten Forschungen anpassen. Gozzo und ihre Mitarbeitenden stehen deshalb mit einem Fuss in der Wirtschaft und dem anderen in der Wissenschaft: Am PSI führen sie kommerzielle Messungen durch, in der übrigen Zeit betreiben sie zusätzliche eigene Experimente und schreiben darüber Fachpublikationen. Auch so bleibt man der Konkurrenz immer einen Innovationsschritt voraus. An Kongressen tauschen sie sich nicht nur mit Forscherkollegen aus, sondern knüpfen auch Kontakte mit Vertretern der Pharmaindustrie. Auf diese Art zog Mathilde kürzlich einen guten neuen Auftrag an Land
, erzählt Fabia Gozzo stolz.
Gozzo mag diese doppelte Herausforderung. Würden wir nur noch Standardprozeduren durchführen, wäre das nicht nur wirtschaftlich kurzsichtig
, sagt sie. Es würde uns auch einfach keinen Spass machen.
Text: Joel Bedetti