Am Paul Scherrer Institut PSI baute Beate Timmermann ein Programm zur Protonentherapie von krebskranken Kindern auf und zog zugleich ihren Sohn gross. Heute leitet sie die Klinik für Partikeltherapie am Westdeutschen Protonentherapiezentrum (WPE) in Essen und gilt als eine der versiertesten Experten auf dem Gebiet.
Die grosse Karriere hatte Beate Timmermann nie geplant. In ihrer Jugend sah sich Timmermann noch als Kinderärztin mit eigener Praxis. Heute ist die 51-Jährige Professorin, Klinikleiterin und führende Spezialistin auf dem Gebiet der Protonentherapie bei pädiatrischen Tumoren. Ihr Vorbild war der Hausarzt ihrer Familie in Hamburg, wo Timmermann aufwuchs. Das war ein Arzt alter Schule
, erzählt Timmermann, der noch auf Hausbesuch kam und dem man das Herz ausschütten konnte.
Noch als Medizinstudentin beriet sich Beate Timmermann mit ihrem Hausarzt, wenn schwierige Uniprüfungen anstanden.
Die Prüfungen bestand sie. Doch dann machte ihr die Ärzteschwemme
einen Strich durch ihren Lebensplan. In den 90er-Jahren schlossen in Deutschland so viele Mediziner ihr Studium ab, dass die Jobs knapp wurden. Man schrieb Dutzende Bewerbungen
, sagt Timmermann, da durfte man nicht wählerisch sein.
Schliesslich erhielt die junge Ärztin eine Stelle an der Universitätsklinik in Tübingen – als Radiotherapeutin. Ich hatte keine Ahnung davon.
Timmermann lacht, als sie dies erzählt. Der Trost: In Tübingen konzentrierte man sich auf die Behandlung von Tumoren bei Kindern. Statt in einer Landarztpraxis fand sich Timmermann im hektischen Alltag einer Universitätsklinik wieder. Wissenschaft konnte ich eigentlich nur nachts betreiben
, erinnert sie sich. Tagsüber konnte ich dafür aber tiefe Einblicke in ein sehr breites und herausforderndes Spektrum der modernen Strahlentherapie gewinnen.
Nach beendeter Facharztprüfung und Dissertation über Radiotherapie von Kindern las Timmermann in einem Artikel über eine neuartige Behandlungsmethode: Radiotherapie mit Protonen. In der konventionellen Behandlung mit Photonen entfacht der Radiostrahl beim Auftreffen auf den Körper die grösste Wirkung – obwohl der Tumor oft tiefer liegt. Der Protonenstrahl entfaltet seine grösste Wirkung erst bei einer definierten Eindringtiefe – dem Tumor. Die Kollateralschäden am gesunden Gewebe sind so viel geringer.
Protonentherapie auch für Kinder
Im Frühling 2002 suchte die damalige Abteilung für Strahlenmedizin ASM des Paul Scherrer Instituts (heute: Zentrum für Protonentherapie ZPT) per Inserat im Deutschen Ärzteblatt nach einer ärztlichen Unterstützung. Die ASM gehörte zu den Pionierinstituten der Protonentherapie: Seit 1984 behandelte sie Augentumore, seit 1996 stand mit der Gantry 1 das erste mit Spot-Scanning-Technik (auch Pencil- Beam-Scanning genannt) ausgerüstete Therapiegerät zur Bekämpfung von tief liegenden Tumoren im Einsatz. Diese Technik ermöglicht eine punktgenaue Bestrahlung und eignet sich daher besonders für die Behandlung von Tumoren an kritischen Stellen wie beispielsweise im Gehirn. Timmermann bewarb sich – und hatte auch schon einen Plan, als sie sich bei der damaligen Abteilungsleiterin Gudrun Goitein vorstellte: Sie wollte die Protonentherapie für Kinder etablieren. Gerade bei kleinen Kindern sind viele Ärzte vorsichtig, weil eine Radiotherapie bleibende Schäden hinterlassen kann
, sagt Timmermann. Deshalb sah ich gerade hier viel Potenzial für die Protonentherapie.
Mit ihrer Idee rannte sie am PSI offene Türen ein. Sie bekam die Stelle. Der Wechsel in die Grundlagenforschung war ein Kulturschock – ein positiver. Die Gantry 1 stand zu jener Zeit regelmässig mehrere Monate wegen Wartungs- und Entwicklungsarbeiten am grossen Protonenbeschleuniger des PSI still. Der grosse Protonenbeschleuniger erzeugt den für die Behandlung benötigten Protonenstrahl. Die stressgewohnte Ärztin konnte also plötzlich wertvolle Zeit für die Wissenschaft nutzen. Sie begann eine Habilitation an der Uni Münster und nahm Kontakt zur Onkologie des Zürcher Unispitals sowie zur Anästhesie des Kinderspitals Zürich auf, welche in die Behandlung der Kinder einbezogen werden sollten. Einzelne Kolleginnen und Kollegen seien anfangs skeptisch gewesen, ob dieses schwierige Vorhaben gelingen kann, erzählt Timmermann. Es gelang ihr jedoch, die Kritiker zu überzeugen.
Gerade bei kleinen Kindern sind viele Ärzte vorsichtig, weil eine Radiotherapie bleibende Schäden hinterlassen kann. Deshalb sehe ich hier viel Potenzial für die Protonentherapie.
Nicht lange nach Stellenantritt wurde dann ihr Sohn geboren. Da ihr Partner damals noch in München wohnte, musste sie ihren Sohn nach der Geburt praktisch zunächst im Alleingang betreuen. Nach dem Mutterschaftsurlaub nahm die Kiwi, die Kinderkrippe des PSI, ihren viermonatigen Sohn auf – damals eine Ausnahme bei einem Säugling. Dafür war ich enorm dankbar
, erinnert sich Timmermann, ich hatte in der Schweiz noch keine Freunde oder Familie, die mir hätten helfen können.
An die Grenze stiess sie beim Schaukeln von Job und Kind trotzdem manchmal, doch sie kriegte es hin – auch weil bald ihr Partner in die Schweiz zügelte. Ab 2004 waren ihre Therapieplätze für Kinder fester Bestandteil des Programms. Die Behandlungserfolge erstaunten selbst Timmermann. Wir konnten Tumore mit hohen Dosen bekämpfen, ohne dass Kollateralschäden auftraten.
Die Ärztin war zudem massgeblich an der Weiterentwicklung der Protonentherapie am PSI beteiligt. Weil Timmermann auch grossflächige Tumore bekämpfen wollte, etwa am zentralen Nervensystem, entwickelte sie mit Physikern und Technikern eine Behandlungsmethode mit einer beweglichen Tischplatte. Anhand von Puppen ermittelten wir die idealen Liegepositionen der Patienten
, erinnert sie sich das ganze Team hat mitgetüftelt, das war sehr motivierend.
Besuch aus PSI-Zeiten
2009 rückte die Einschulung ihres Sohnes näher. Timmermann, inzwischen stellvertretende Leiterin des neuen ZPT, wusste: Sie wollte nach Deutschland zurück. Damals verbreitete sich die Protonen-therapie in Europa, alleine in Deutschland wurden gleich zwei Anlagen gebaut. Timmermann erhielt ein Angebot von der Uniklinik Essen, wo unter dem Dach des Westdeutschen Tumorzentrums ein Protonenbestrahlungsinstitut entstand. Später kam dann der Ruf auf die Professur für Partikeltherapie. Das PSI verliess sie mit schwerem Herzen. Ich hatte dort Freunde gefunden
, sagt sie. Mein Sohn wuchs praktisch hier auf.
Umso erstaunter war Timmermann bei der Ankunft in Essen. Die Protonenbestrahlungseinheit war noch nicht betriebsbereit. Es folgten vier Jahre Verhandlungen zwischen Uniklinik und Hersteller. Zeitweise stand das ganze Vorhaben auf der Kippe. Da dachte ich dann schon: Hat sich dieser Umzug gelohnt?
, erzählt Timmermann. 2013 ging der Betrieb endlich los. Heute hat die von Beate Timmermann geleitete Klinik für Partikeltherapie am Westdeutschen Protonentherapiezentrum (WPE) vier Bestrahlungsräume und behandelte letztes Jahr 500 Patienten, knapp die Hälfte davon Kinder. Das ist das grösste Programm dieser Art in Europa
, sagt Timmermann. Sie selbst gilt inzwischen als führende Expertin in der Protonentherapie für Kinder. Meine Referate beginne ich fast immer mit der Zeit am PSI
, sagt Timmermann. Jeder, der sich mit Protonentherapie beschäftigt, weiss, welche Pionierrolle das PSI darin einnimmt.
Mit ehemaligen Kollegen aus Villigen hat Timmermann per E-Mail Kontakt, andere trifft sie an Kongressen wieder. Und dann gibt es da noch diesen Besuch aus der PSI-Zeit, den Beate Timmermann fast jedes Jahr in Essen erhält. Ein Junge, den sie von einem Hirntumor befreite. Ich sehe, wie er aufwächst und zur Schule geht
, sagt Timmermann, das ist ein schöner Beweis für den Erfolg der Protonentherapie.
Text: Joel Bedetti