Ob Materialien für die Elektronik der Zukunft, Batterien oder Schwerter aus der Bronzezeit – seit 20 Jahren nutzen Forschende verschiedener Disziplinen die Spallations-Neutronenquelle SINQ des Paul Scherrer Instituts PSI für ihre Untersuchungen. Bei einem Symposium am 18. April blickten Forschende auf die Erfolge der Anlage zurück und stellten Pläne für eine Modernisierung vor.
Vor 20 Jahren ging die Spallations-Neutronenquelle SINQ des PSI in Betrieb. Seither können Forschende an dieser schweizweit einzigartigen Forschungsanlage in das Innere von Materialien und Objekten blicken. In ihren Experimenten durchleuchten
sie ihre Untersuchungsgegenstände mit einem Strahl von Neutronen. Die Experimente ähneln medizinischen Untersuchungen mit Röntgenlicht, liefern aber dank der besonderen Eigenschaften der Neutronen andere Informationen über die untersuchten Gegenstände.
In Metalle hineinschauen
So lässt sich mit Hilfe von Neutronen beispielsweise tief in das Innere von metallischen Objekten schauen. Archäologen und Kunsthistoriker können Bronzestatuen, Schwerter oder historische Musikinstrumente untersuchen und erhalten Hinweise auf die Herstellungsverfahren, ohne die wertvollen Objekte zu beschädigen. Entwickler aus der Industrie bilden mithilfe von Neutronen am PSI das Innere von technischen Geräten – zum Teil sogar während des Betriebs – ab. Diese Einblicke helfen ihnen, die Vorgänge in den Geräten zu verstehen und so ihre Produkte zu verbessern. Bisher wurden beispielsweise Verbrennungsmotoren von Kettensägen, Dieselrusspartikelfilter oder Motorradkupplungen untersucht.
Batterieforscher untersuchen zum Beispiel, was in einer Lithiumionen-Batterie geschieht, während sie geladen und entladen wird. Sie wollen erfahren, warum sich die Batterien mit der Zeit schlechter laden lassen und mit dem Wissen Technologien für haltbarere und effektivere Batterien entwickeln.
Materialeigenschaften verstehen
Zahlreiche Forschende untersuchen Materialien mit ungewöhnlichen Eigenschaften, die in Zukunft schnelle und energiesparende Datenspeicher oder sogar Quantencomputer ermöglichen könnten. Wir entwickeln hier an der SINQ aber nicht direkt elektronische Bauteile, das müssen andere tun
, betont Christof Niedermayer, Leiter des PSI-Labors für Neutronenstreuung und Imaging. Wir untersuchen, wie die besonderen Eigenschaften von Materialien zustande kommen und schaffen damit die Grundlage für diese Entwicklungen.
Für diese Untersuchungen sind Neutronen besonders gut geeignet, denn sie nehmen das feine Wechselspiel zwischen den Atomen wahr, aus denen das Material aufgebaut ist, und das für die verschiedenen Eigenschaften verantwortlich ist.
Medikamente gezielt transportieren
Auch die Medizin kann von der Neutronenforschung profitieren – zum Beispiel haben Forschende die Möglichkeiten untersucht, Medikamente gezielt zu den erkrankten Bereichen im Körper zu transportieren. Dazu würden die medizinischen Wirkstoffe in Liposomen eingeschlossen – winzigen Kügelchen, die von einer Membranhülle umgeben sind. Durch gezielte Stimulation öffnen sich diese Liposomen direkt in einer erkrankten Zelle, sodass sich das Medikament nicht unnötig im ganzen Körper verteilt. Mit Neutronen lässt sich der Aufbau solcher Liposomen studieren.
Offen für externe Forschende und Ausbildung von Studenten
Das sind nur einige wenige Beispiele für aktuelle Forschungsthemen an der Neutronenquelle des PSI: Jedes Jahr führen Forschende hier mehrere hundert Experimente durch. Darunter sind nicht nur Forschende des PSI, sondern auch zahlreiche externe Nutzer, denn die SINQ steht Forschenden von Universitäten, Forschungsinstituten und aus der Industrie offen, die Neutronenexperimente für ihre Arbeit brauchen. Jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler kann sich um Messzeit bewerben. Ein internationales Gremium aus Experten wählt die besten Projekte aus, die dann tatsächlich durchgeführt werden können. Dieses Angebot gilt für Forschende aus der Schweiz wie auch aus dem Ausland. Im Gegenzug stehen Schweizer Forschern ähnliche oder auch komplementäre Anlagen im Ausland offen. Rund die Hälfte der Nutzer an der SINQ stammt aus der Schweiz. Sie führen ihre Experimente oft im Rahmen langfristiger Kooperationen mit dem PSI durch. Ein wichtiger Teilaspekt dieser Zusammenarbeiten ist die Ausbildung von Studenten und jungen Wissenschaftlern für die Nutzung dieser Grossanlagen.
Gute Betreuung für Nutzer
Dass sich viele Forscher dafür entscheiden, an der SINQ zu messen, hat eine Reihe von Gründen
, erklärt Niedermayer. In Befragungen loben viele Nutzer vor allem die sehr gute Unterstützung durch die Wissenschaftler vor Ort, die dafür sorgen, dass die experimentellen Möglichkeiten für jede Fragestellung optimal ausgenutzt werden. Auch hat jedes Neutronenforschungszentrum Anlagen, bei denen es sich besonders spezialisiert hat. An der SINQ sind das zum Beispiel die technischen Probenumgebungen.
Diese Geräte machen es möglich, Materialien zu untersuchen, während sie extremen äusseren Bedingungen ausgesetzt sind: Das können sehr tiefe Temperaturen, hoher Druck oder starke magnetische Felder sein. Oftmals liefern erst Experimente unter veränderten externen Einflüssen die entscheidenden Erkenntnisse zu spezifischen Materialeigenschaften.
Lange Tradition
Dass die SINQ die einzige Neutronenquelle der Schweiz ist, liegt unter anderem an dem Aufwand zum Betreiben einer solchen Anlage. Neutronen gehören zwar zu den Grundbausteinen unserer Materie und sind Bestandteil aller Dinge, die uns umgeben, aber es ist schwierig, sie aus dem Verbund der Atomkerne herauszulösen. So steht am Anfang der Neutronenerzeugung die Protonenbeschleunigeranlage mit dem grossen Ringzyklotron als Herzstück. Dieses Gerät mit einem Durchmesser von etwa 12 Metern beschleunigt Protonen auf rund 80 Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Diese Protonen werden dann in einem Metallblock gestoppt. Bei den heftigen Kollisionen der Protonen mit den Atomkernen des Metalls werden Neutronen frei und stehen für die Experimente zur Verfügung. Der von einem Wassermoderator umgebene Metallblock befindet sich in einem markanten, drei Stockwerke hohen Bau aus Beton und Eisen, der die Haupthalle dominiert, in der ein Teil der Neutronenexperimente durchgeführt werden.
Der Protonenbeschleuniger selbst ist deutlich älter als die Neutronenquelle. Er ging bereits 1974 in Betrieb und diente zunächst vor allem Experimenten der Teilchenphysik. Dank seiner innovativen Technik konnte die Leistung des Beschleunigers über die Jahre so massiv erhöht werden, dass er für eine Neutronenquelle genutzt werden kann. Die Tradition der Neutronenforschung am PSI reicht jedoch weiter zurück als zwanzig Jahre. Schon zuvor wurden hier Experimente mit Neutronen an zwei kleineren Neutronenquellen durchgeführt. Mit dem Aufbau der SINQ eröffneten sich aber ganz neue Forschungsmöglichkeiten mit Neutronen. Einerseits offeriert die Anlage deutlich mehr Messplätze, an denen gleichzeitig experimentiert werden kann als an den vorherigen Neutronenquellen des PSI, andererseits liefert die SINQ zusätzlich auch sogenannte kalte
Neutronen: stark abgebremste Neutronen, mit denen man etwa biologische Strukturen oder auch viele magnetische Phänomene viel vertiefter untersuchen kann.
Neutronenleiter im Mittelpunkt
In einem Punkt war die SINQ Vorreiterin: Die SINQ war die ersten Neutronenquelle weltweit, an der fast durchgehend Neutronenleiter mit neuartigen Superspiegeln verwendet wurden
, erklärt Jürg Schefer, Physiker und seit 30 Jahren in der Neutronenforschung am PSI aktiv. Neutronenleiter sind innen verspiegelte Glaskanäle, in denen Neutronen zu den Experimenten geführt werden wie optische Signale in einem Lichtleiter. Nur dank der Neutronenleiter kommen auch an Experimentierplätzen, die 30 oder 40 Meter von der Quelle entfernt sind, noch genügend Neutronen an. Die superbespiegelten Neutronenleiter für die SINQ wurden am PSI entwickelt und hergestellt. Die verantwortlichen Forscher haben dann als Spin-off 1999 die Firma SwissNeutronics AG gegründet, die bis heute sehr erfolgreich immer komplexere Neutronenleitersysteme entwickelt, herstellt und an Forschungszentren weltweit verkauft und installiert
, so Schefer.
Neutronenleiter stehen auch im Mittelpunkt des aktuellen Modernisierungsprojekts: Die jetzigen Leiter sollen in den kommenden Jahren durch neue ersetzt werden, die dem neuesten Stand der Innovationen entsprechen. Diese besseren Leiter werden mehr Neutronen zu den Messinstrumenten bringen und so die Leistung der jetzigen Experimente verbessern. Die Umbauten werden neue Untersuchungsmethoden für wissenschaftliche und industrielle Fragestellungen ermöglichen.
Text: Paul Scherrer Institut/Paul Piwnicki
Über das PSI
Das Paul Scherrer Institut PSI entwickelt, baut und betreibt grosse und komplexe Forschungsanlagen und stellt sie der nationalen und internationalen Forschungsgemeinde zur Verfügung. Eigene Forschungsschwerpunkte sind Materie und Material, Energie und Umwelt sowie Mensch und Gesundheit. Die Ausbildung von jungen Menschen ist ein zentrales Anliegen des PSI. Deshalb sind etwa ein Viertel unserer Mitarbeitenden Postdoktorierende, Doktorierende oder Lernende. Insgesamt beschäftigt das PSI 2000 Mitarbeitende, das damit das grösste Forschungsinstitut der Schweiz ist. Das Jahresbudget beträgt rund CHF 370 Mio. Das PSI ist Teil des ETH-Bereichs, dem auch die ETH Zürich und die ETH Lausanne angehören sowie die Forschungsinstitute Eawag, Empa und WSL.
(Stand 05/2016)
Kontakt
Prof. Dr. Christian Rüegg, Bereichsleiter Forschung mit Neutronen und MyonenPaul Scherrer Institut, 5232 Villigen PSI, Schweiz
Telefon: +41 56 310 47 78, E-Mail: christian.rueegg@psi.ch
Prof. Dr. Christof Niedermayer, Laborleiter Neutronenstreuung und Imaging
Paul Scherrer Institut, 5232 Villigen PSI, Schweiz
Telefon: +41 56 310 20 86, E-Mail: christof.niedermayer@psi.ch