Abwarten und Kristalle züchten

Am PSI entschlüsseln Forschende die Struktur der Proteine von Bakterien und Viren. Mit ihrem Wissen lassen sich beispielsweise Medikamente gegen Infektionskrankheiten entwickeln. Doch bevor die Untersuchung beginnen kann, muss ein äusserst kniffliges Problem gelöst werden: die Kristallisation der Moleküle.

Chia-Ying Huang greift zum Glasschneider. Vorsichtig, aber dennoch kraftvoll trennt sie ein kleines Stück aus der dünnen Glasplatte vor ihr heraus. Nun offenbart sich für den Betrachter, dass die Platte, die zunächst wie aus einem Guss aussah, in ihrer Mitte eine dünne Folie eingeschlossen hat. Mit einem Skalpell ritzt Huang auch daraus etwas heraus. Schliesslich hält sie mit einer Pinzette ein nur wenige Millimeter breites Stück Folie in die Höhe. «Hier drin befinden sich meine Kristalle», verkündet sie stolz.

Um die Struktur und letztlich die Funktionsweise von Proteinen aufzuklären, muss man sie zunächst kristallisieren. Eine mühevolle Arbeit, die die Geduld von Forschenden auf eine harte Probe stellen kann.
(Grafik: Christoph Frei)

Mit blossem Auge zu sehen ist da nichts. Erst als Chia-Ying Huang die Folie unter ihr Mikroskop legt, muss auch der misstrauischste Beobachter zugeben, dass sie recht hat: Viele Dutzend farblose Kristalle präsentieren sich am Rand eines eingeschlossenen Flüssigkeitstropfens. Die durchscheinenden Würfelchen erinnern an winzige Diamanten. Huang klemmt den wertvollen Schnipsel Folie in eine Halterung und taucht ihn in eine Schüssel mit flüssigem Stickstoff. Darin warten – durch die eisige Kälte des Stickstoffs konserviert – bereits andere Proben darauf, an der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS vermessen zu werden.

Die Biochemikerin Chia-Ying Huang arbeitet seit vier Jahren als Kristallografin an der SLS. Zuvor hatte sie am Trinity College im irischen Dublin eine neue Methode entwickelt, um Proteine in winzigen Flüssigkeitsmengen zwischen zwei dünnen Plastikfolien zu kristallisieren, schon damals in Kooperation mit den Forschenden an der SLS. Von dieser Technik profitieren jetzt ihre Kollegen am PSI sowie alle externen Nutzer, die mithilfe der SLS die Struktur von sogenannten Membranproteinen entschlüsseln. Diese Biomoleküle, die natürlicherweise in der Hülle von bakteriellen, tierischen oder menschlichen Zellen verankert sind, haben grosse medizinische Bedeutung: Gut ein Drittel aller derzeit zugelassenen Arzneimittel wirkt auf diesen Proteintyp. Doch eine Eigenschaft dieser Membranproteine macht es besonders schwierig, sie zu kristallisieren: Sie sind nicht wasserlöslich. Deshalb braucht man für sie besonders ausgeklügelte Kristallisationsmethoden.

So klein und so begehrt

Der Aufwand lohnt sich, denn um die Funktion von Proteinen zu erforschen und beispielsweise Medikamente gegen Viren oder Bakterien zu entwickeln, müssen Forschende die Struktur der Proteine genau kennen. Zuverlässigster Weg ist die Kristallstrukturanalyse. Dafür werden die Kristalle mit Synchrotronlicht durchleuchtet; aus dem dabei entstehenden Beugungsmuster lässt sich, unter anderem mit komplexen Rechenmethoden, der Aufbau der Moleküle ermitteln. Damit das klappt, müssen sich die Proteinmoleküle allerdings in einem regelmässigen dreidimensionalen Muster, eben einem Kristall, anordnen.

«Proteinkristallisation ist der Flaschenhals der gesamten Strukturbiologie», sagt May Sharpe. Die Kristallografin leitet die Kristallproduktionsstätte, eine PSI-Einrichtung, die internen und externen Nutzern der SLS hilft, die Kristalle zu züchten, die sie für ihre Forschung brauchen. «Gleichzeitig haftet diesem Zweig der Wissenschaft beinahe etwas Magisches an.» Ein Patentrezept fürs Züchten der Kristalle gibt es nämlich nicht: Die Experimente basieren auch nach vielen Jahrzehnten Forschung noch immer grösstenteils auf Versuch und Irrtum.

Wer Kristalle von Kochsalz oder Haushaltszucker züchten möchte, löst eine grosse Menge davon in Wasser und lässt die Lösung eine Weile stehen. Schon beginnen im Regelfall, wunderhübsche Kristalle zu wachsen. Aber mit Proteinen funktioniert das nicht so leicht: Sie sind komplexe Moleküle mit einer komplizierten dreidimensionalen Struktur. Nur sehr zögerlich ordnen sie sich zu regelmässigen, immer noch recht lockeren Verbänden zusammen. «Sie müssen dafür sehr rein und sehr stabil sein», fasst Sharpe zusammen. «Wir sagen gerne, unsere Proteine müssen glücklich sein.»

Membranproteine, mit denen Chia-Ying Huang arbeitet, sind ganz besonders delikat. «Wirklich stabil sind sie nur in ihrer angestammten Umgebung: in der Zellmembran», erklärt Sharpe. Es ist eine grosse Herausforderung, diese Art von Proteinen überhaupt pur, ohne Membran, aus den Zellen so rein zu gewinnen, dass sich Kristalle mit ihnen züchten lassen.

Proteinkristalle sind winzig – ganz besonders im Vergleich zu einem Bergkristall, den man aus dem Geologiemuseum kennt. Wenn man Glück hat, wachsen sie bis zu einer Grösse von einem halben Millimeter. Andere bleiben so klein, dass man sie nur unter dem Mikroskop sieht.

Viel Überzeugung nötig

In Huangs Labor in der SLS fährt ein Pipettierroboter langsam eine Kunststoffplatte mit Vertiefungen ab. In jedes kleine Näpfchen der Platte, Wells genannt, pipettiert er winzige Mengen Proteinlösung, gerade mal ein Zehntausendstel eines Milliliters. Für gewöhnlich gibt der Roboter dazu dann eine vorbereitete Mischung aus Wasser, Salzen und chemischen Hilfsmitteln, die sich im Laufe der Zeit als förderlich für die Kristallbildung erwiesen haben.  Da Membranproteine sich nicht in Wasser lösen, geht Huang hier aber anders vor. Entweder gibt sie zusätzlich ein Mittel zu, das die Proteine stabilisiert. Oder sie ersetzt das Wasser als Lösungsmittel durch Lipide, fettliebende Biomoleküle. Bei ihrer selbst entwickelten Methode pipettiert der Roboter das Protein zusammen mit Lipiden und Hilfssubstanzen zwischen Folien so, dass diese den winzigen Lipidtropfen komplett umschliessen. Die Flüssigkeit ist dazwischen sicher bewahrt, weder Luft noch Feuchtigkeit können stören.

Proteinkristalle sind klein, teilweise mit 15 Mikrometern Kantenlänge sogar winzig. Erst unter dem Mikroskop wird klar, wie gut die Kristalle sind, sprich, ob sie sich zur Analyse an der SLS eignen.
(Grafik: Christoph Frei)

«Mit dieser Methode wachsen die Kristalle bei einigen Arten von Membranproteinen viel besser», erklärt Chia-Ying Huang. «Und es gibt noch einen Vorteil: Man muss sie nicht wieder aus der Lösung fischen, wenn sie einmal entstanden sind.» Stattdessen löst Huang einfach die in Folie eingeschweissten Tropfen mitsamt Kristallen mit dem Schneidewerkzeug aus der Platte heraus.

Chia-Ying Huangs Membranproteine liefern besonders winzige Kristalle mit einer Kantenlänge von nur einem Zehntel oder sogar Hundertstel Millimeter. «So kleine Kristalle werden im Röntgenstrahl der SLS leicht zerstört», erklärt sie. «Daher müssen wir viele nacheinander messen, um genügend Daten zu erhalten.» Glücklicherweise entstehen, wenn alles gut läuft, meist gleich mehrere Hundert Kristalle pro Probe. Die werden vom Röntgenstrahl der SLS nach und nach abgetastet und vermessen. Möglich macht das die sogenannte serielle Kristallografie.

Im Plattenhotel gibt’s tausend Betten

Das Herz der Kristallproduktionsstätte am PSI ist das «Plattenhotel», wie die Forscherinnen den grossen, auf 20 Grad Celsius temperierten Laborschrank nennen. In ihm lagern bis zu tausend Plastikplatten mit jeweils Dutzenden Proben. Die Forschenden warten darauf, dass in den Proteinlösungen etwas passiert – genauer: dass Kristalle ausfallen. Regelmässig fahren die Platten automatisiert unter eine Kamera, die jedes einzelne Well ablichtet und das Foto speichert.

Chia-Ying Huang betrachtet am Computer Bilder von einer dieser Versuchsreihen. «Die Lösungen sind jetzt schon drei Wochen da drin, aber man sieht immer noch nichts», sagt sie und zeigt auf die unzähligen Fotos von farblosen Tropfen. Frustrieren lässt sie sich davon aber nicht. «Es dauert für gewöhnlich einen Monat, bis sich Kristalle bilden.» Nicht selten aber tut sich gar nichts. Dann setzt die Kristallografin mithilfe des Pipettierroboters neue Proteinlösungen mit einer anderen Zusammensetzung an: Sie erhöht die Proteinkonzentration, tauscht das Lösemittel aus oder fügt Zusatzstoffe hinzu – und wartet wieder.

Nicht immer stellen die Proteine die Geduld der Forscherinnen auf die Probe. Im Gegenteil: Manche fallen überstürzt in einem grossen ungeordneten Haufen aus der Lösung aus. Die Qualität der dabei gebildeten festen Substanzen reicht für die Kristallstrukturanalyse aber nicht aus, da die Moleküle sich nicht in regelmässigen Mustern angeordnet haben. Auch hier heisst es: nochmal neu versuchen – diesmal vielleicht mit einer verdünnten Lösung.

Im Grunde starrt man die ganze Zeit auf Tropfen.

May Sharpe, Proteinkristallografin am Paul Scherrer Institut PSI

«Proteinkristallisation ist ein undankbarer Job», sagt May Sharpe und lacht. «Im Grunde starrt man die ganze Zeit auf Tropfen. Die meisten Forschenden mögen das nicht, aber mir gefällt es ganz gut.» Sie entwickelte die Leidenschaft für dieses Fachgebiet während ihrer Doktorarbeit beim Biotechnologie- und Pharmaunternehmen Novartis in Basel, wo sie an der Kristallisation von Proteinen zum Zwecke der Wirkstoffentwicklung forschte. Was für ihre Kollegen und Kolleginnen ein notwendiger, aber unliebsamer Schritt war, weckte schnell ihr Interesse.

«Es macht mir Spass, so viele verschiedene Dinge auszuprobieren. Und es ist schön, anderen dabei zu helfen, an die begehrten Kristalle zu kommen», sagt sie. Was May Sharpe in ihren jetzt acht Jahren am PSI übers Züchten von Proteinkristallen gelernt hat? «Man darf nicht zu viel nachdenken», sagt sie. «Stattdessen einfach mal schauen, was passiert, und dazulernen. Vor allem aber muss man sich von der Idee lösen, dass man immer alles versteht, was da passiert.» Genau das ist es, was die beinahe magische Komponente an ihrer Arbeit und an der Tauchfahrt in die Welt der Mikroben ausmacht.

Text: Brigitte Osterath

Nutzungsrechte

Das PSI stellt Bild- und/oder Videomaterial für eine Berichterstattung über den Inhalt des obigen Textes in den Medien kostenfrei zur Verfügung. Eine Verwendung dieses Materials für andere Zwecke ist nicht gestattet. Dazu gehören auch die Übernahme des Bild- und Videomaterials in Datenbanken sowie ein Verkauf durch Dritte.