Bei etwas so scheinbar Alltäglichem wie Eis und Schnee gibt es noch eine lange Liste unerforschter Phänomene. Thorsten Bartels-Rausch sucht Antworten auf die grossen offenen Fragen auf molekularer Ebene und hat soeben in der Fachzeitschrift Nature diese Fragen kommentiert.
Eis und Schnee sind für uns etwas sehr Gewöhnliches. Sie sagen in Ihrem Kommentar in der Nature-Ausgabe von Anfang Februar, die Wissenschaft wisse darüber im Grunde noch sehr wenig.
Die Kristallstruktur von festem Eis ist gut bekannt. Schon über die Struktur an der Oberfläche, wo die Wassermoleküle weniger geordnet sind, wissen wir zu wenig. Und genau an dieser Grenzschicht treffen andere Stoffe aus der Luft und Schnee aufeinander. Wie laufen diese Wechselwirkungen mit Spurengasen aus der Atmosphäre ab? Wir wissen es nicht. Eiskristalle sind sehr starr und bieten wenig Platz für andere Stoffe. Das andere Extrem ist flüssiges Wasser. Lösen sich darin Stoffe, passt sich die Struktur des Wassers an, um die Chemikalien aufzunehmen. Mit Versuchen an Synchrotron Lichtquellen fanden wir Hinweise, dass Fremdstoffe auf dem Eis ebenfalls von einer Hülle aus Wassermolekülen eingeschlossen werden. Sie scheint aber beschränkt auf die nähere Umgebung der Chemikalie.
Es gibt also noch kein schlüssiges Bild?
Genau. Und bei Schnee ist es auch nicht einfacher. Er ändert sich in der Umwelt auch noch ständig. Enthält Schnee beispielsweise flüssiges Wasser zwischen den Schneekristallen ändern sich die chemischen und physikalischen Eigenschaften markant.
Wie sieht es mit dem Grundlegenden aus - wie entsteht Eis?
Auch darüber wissen wir weniger als man erwarten sollte. Wir können noch immer nicht mit Sicherheit sagen, wann sich in der Atmosphäre Eiswolken bilden. Manche Himmelsregionen bleiben feucht, obwohl wir erwarten würden, dass sie zu frieren beginnen. Wir wissen nicht einmal, ob Wassertröpfchen von innen nach aussen oder von aussen nach innen kristallisieren und welche Eisformen sie bilden.
Keine zwei Schneekristalle sind gleich. Man kann sich vorstellen, dass es beim Schnee noch weit komplizierter ist als beim Eis.
Schnee am Boden ist immer ein komplexes Gemisch, das Luft und Einschlüsse wie Seesalz, organischen Feinstaub und andere Verunreinigungen aus der Umwelt enthalten kann. In diesen verhalten sich die enthaltenen Stoffe sehr verschieden. Nehmen wir als Beispiel Quecksilbersalze. Sie werden in flüssiger Umgebung effizient durch Sonnenlicht und andere Chemikalien abgebaut. Was aber passiert im Schnee? Noch immer ist unklar, wie Quecksilbersalz dort reagiert und wie schnell analoge Reaktionen dort ablaufen. Wir versuchen, genauere Daten zu gewinnen, indem wir jeweils einen Prozess unter kontrollierten Bedingungen im Labor nachvollziehen und die Komplexität der Natur kontrolliert umsetzen. Dazu müssen wir die Reaktionen auf molekularer Ebene anschauen. Noch wissen wir zu wenig über das Verhalten von Umweltgiften und natürlichen Verunreinigungen in Eis und Schnee.
Sie erhoffen sich mehr Wissen über grundlegende Vorgänge, weil Eis und Schnee wichtig für das Klima sind.
Rund 10% der Landfläche der nördlichen Hemisphäre sind permanent von Schnee bedeckt. Im Winter sind es in der nördlichen Hemisphäre bis zu 50%. Das weisse Eis der Polarkappen reflektiert 90% der Sonneneinstrahlung. Eiskristalle frieren in Wolken aus und 7% der Ozeane sind von Eis bedeckt. Diese Eis- und Schneedecken binden Umweltgifte, verhindern den freien Austausch von Nahrungs- und Schadstoffen, verändern Ozeanströmungen und den Strahlungshaushalt der Erde.
Eis und Schnee beeinflussen die Stoffkreisläufe von Umweltgiften grundlegend?
Nehmen wir einige Beispiele: Quecksilber und Pestizide werden durch die Luft verbreitet und reichern sich in kalten Gebieten im Schnee an. Dies reduziert die Menge dieser Gifte in der Luft. Die Frage ist nun, ob diese Stoffe im Schnee wirklich stabil sind und so langfristig dort bleiben. Manche chemischen Reaktionen werden in Gefrierprozessen beschleunigt, da die Chemikalien aufkonzentriert werden, während sich die wässrige Lösung langsam in Eis umwandelt. Was passiert zum Beispiel, wenn Schmelzwasser in tieferen Schichten während der Nacht wieder gefriert? Feinstaub wiederum ist sehr reaktiv und kann klimarelevante Spurengase freisetzen. Das ist in der Atmosphäre gut untersucht. Aber spielt es auch im Schnee eine Rolle? Meersalz führt dazu, dass zwischen den Schneekristallen flüssiges Wasser bei minus 20 Grad vorkommen kann. Was heisst das für chemische Reaktionen? All diese Fragen sind noch offen. Uns fehlt viel grundlegendes Wissen auf molekularer Basis. Erst wenn wir das haben, können wir die komplexen Vorgänge im Grossen verstehen. Das Wissen darüber ist essentiell für Vorhersagen über die Zukunft des Lebens auf unserem Planeten.
Interview: Alexandra von Ascheraden
Originalveröffentlichung
Ten things we need to know about ice and snowThorsten Bartels-Rausch
Nature, 494, 27–29 (07 February 2013), doi:10.1038/494027a
Zur Person
Thorsten Bartels-Rausch studiert die Chemie von Eis in der Gruppe Oberflächenchemie von Markus Amman am Paul Scherrer Institut. Bartels-Rausch hat in Würzburg (Deutschland), Trondheim (Norwegen) und an der ETH Zürich studiert und an der Universität Bern und am PSI promoviert und war als Postdoc in Toronto (Kanada). Seit 2006 forscht er wieder am Paul Scherrer Institut. Er ist verheiratet und Vater von drei Kindern.Persönliche Webseite