Eine biotechnologische Revolution

Ein Interview mit Gebhard Schertler

Gebhard Schertler ist Leiter des Forschungsbereichs Biologie und Chemie am Paul Scherrer Institut PSI und Professor für Strukturbiologie an der ETH Zürich. In diesem Interview spricht er über die biologische Forschung am PSI und die Zukunft der Medikamentenentwicklung.

Gebhard Schertler, Leiter des Forschungsbereichs Biologie und Chemie am Paul Scherrer Institut PSI und Professor für Strukturbiologie an der ETH Zürich. (Foto: Scanderbeg Sauer Photography)

Herr Schertler, es gehört zu den Kernkompetenzen des PSI, die Struktur von Proteinen zu entschlüsseln. Was macht Proteine so interessant?

In der Biologie stellen die Proteine die Werkbank des Lebens dar. Sie sind Strukturbausteine oder aktive Werkzeuge, die Stoffe umwandeln oder Signale weiterleiten. Damit stehen sie im Zentrum unseres Ansatzes, Lebensprozesse zu verstehen. Es gibt den schönen Satz: Die Sprache des Lebens ist die Chemie. Und sehr viele Proteine sind Katalysatoren, die diese Chemie ermöglichen oder regulieren.

Welche Bedeutung hat die Proteinforschung für unseren Alltag?

Die Grundlagenbiologie wird immer relevanter für die Entwicklung neuer Therapiemöglichkeiten gegen Krankheiten. So helfen die Erkenntnisse, die wir über den Aufbau von Proteinen gewinnen, bessere Medikamente zu entwickeln – zum Beispiel gegen Krebs oder Augenkrankheiten. Aber das Potenzial ist noch grösser: Wir stehen am Anfang einer technologischen Revolution, die man als biologisches System-Engineering bezeichnen könnte. Dabei werden Proteine zu Komponenten in neuen biologischen Regelkreisen. Zum Beispiel denkt man heute über Medikamente nach, die sich mit Licht an- oder ausschalten lassen. Das ist momentan nur bedingt möglich, wird in der Zukunft aber sehr wichtig werden. Das PSI stellt dafür die Forschungs-Infrastruktur zur Verfügung.

Immer wieder fällt das Schlagwort personalisierte Medizin, wenn es um die Zukunft der Diagnostik und Therapie geht. Was ist damit gemeint?

Personalisierte Medizin hat verschiedene Aspekte. Zum einen ist damit eine Behandlung gemeint, die auf eine bestimmte Person zugeschnitten ist – das kann mit einem Gentest anfangen, aber auch mit der Krankengeschichte und mit bildgebendem Verfahren: etwa wenn man bei der Protonentherapie am PSI genau definiert, welche dreidimensionale Zone um den Tumor herum behandelt werden soll. Zum anderen will man möglichst alle Gene und Umweltfaktoren eines Menschen analysieren und so zum Beispiel erkennen, ob Krebszellen auf eine bestimmte Hormontherapie reagieren werden oder nicht. Für mich ist der Kern, dass nach einer genauen Analyse des individuellen Patienten am Ende eine optimale Behandlung herauskommt.

Und welchen Beitrag leisten Forscher am PSI für diese personalisierte Medizin?

In unserer Grundlagenforschung geht es darum, wie Proteine miteinander zusammenwirken. Man versucht mit einer Analyse zu bestimmen, welches Protein bei einer Krankheit eine zentrale Rolle spielt: Dieses Protein nennt man dann Zielmolekül, da es der Angriffspunkt für die medizinische Behandlung wird. Die Forschenden bei uns am PSI spielen oft eine sehr wichtige Rolle, wenn ein solches Zielmolekül bereits identifiziert ist und es danach strukturell, biophysikalisch oder kinetisch genauer untersucht werden soll. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen liefern dann Hinweise, welche Medikamente für die Behandlung geeignet sind.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang rationale Medikamentenentwicklung – und was wäre die Alternative?

Früher hat man versucht, abertausende chemische Verbindungen gleichzeitig in einem grossen Testverfahren – das meist für jeden Test entwickelt werden musste – zu untersuchen, um zufällig eine einzelne Verbindung zu identifizieren, die die gewünschte Wirkung zeigt. Doch dieser nicht-rationale Ansatz hat sich nicht bewährt. Es wurden Millionen investiert – und am Ende waren die Erfolge gering. Deswegen gibt es heute eigentlich keine Alternative mehr zur rationalen Medikamentenentwicklung, bei der man, ausgehend von einem Zielmolekül, einen Wirkstoff passend entwickelt. Wir machen da gute Erfahrungen mit biologischen Wirkstoffen, zum Beispiel mit Antikörpern. Hat man nämlich erst einmal rational ein Zielmolekül als die Ursache einer Erkrankung identifiziert, kann man es mit Antikörpern an- oder abschalten. Nachteile der Antikörper: Sie müssen meist injiziert werden, es kann auch zu immunologischen Reaktionen kommen. Deshalb sucht immer noch ein Grossteil der Pharmaforschenden nach löslichen Substanzen, die man als Tablette einnehmen kann. Auch hier gibt es grosse Fortschritte – einerseits durch die Strukturbiologie, andererseits durch die Modellierung von Proteinen im Computer. Es ist eine Kombination aus Erfahrung und Theorie, die am Ende die besten Erfolge bringt.

In welchen anderen Bereichen entwickelt das PSI eine personalisierte Medizin?

Hier ist vor allem noch die Radiopharmazie zu nennen, wo in enger Zusammenarbeit mit Spitälern Radiopharmaka, also radioaktiv markierte Wirkstoffe, entwickelt werden. Diese werden meist für die Diagnose von Krebserkrankungen, aber vermehrt auch in der Therapie eingesetzt.

Welche Strategien verfolgen Sie darüber hinaus innerhalb der lebenswissenschaftlichen Forschung des PSI? Gibt es eine Vision, die Ihnen den Weg weist?

Strategisch haben wir uns im Moment stark darauf fokussiert, einen Beitrag zur personalisierten Medizin zu leisten. Gleichzeitig werden wir neben grundlegenden Fragestellungen in der Strukturbiologie weiterhin Themen bevorzugen, die Relevanz für die Pharmaindustrie haben und wir werden verstärkt mit Spitälern zusammenarbeiten. Es ist wichtig zu verstehen, dass sich die Erkenntnisweise verändert. Bis jetzt war es möglich, grosse Durchbrüche mit einzelnen experimentellen Methoden alleine zu erreichen. In der Zukunft wird es immer wichtiger, Kombinationen von mehreren Methoden zu finden, die adäquat sind, um ein spezifisches Problem zu lösen und neue Erkenntnisse zu ermöglichen. Wir investieren daher in ein breiteres Portfolio von Methoden. Zum einen hat das PSI in den letzten Jahren den Freie-Elektronen-Röntgenlaser SwissFEL gebaut, mit dem sich die Bewegung von Proteinen gewissermassen in Form molekularer Filme sichtbar machen lässt. Zum anderen wird die Strukturanalyse mittels Elektronenstrahlen immer wichtiger – auch hier arbeiten wir an neuen Geräten. Ein wichtiges Ziel für die Zukunft ist es, die Struktur von Proteinen in ihrer natürlichen Umgebung im Inneren von Zellen zu bestimmen.

Interview: Judith Rauch