Maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz gehören heute zum Handwerkszeug der meisten Forschenden am PSI. Diese Methoden verändern die Wissenschaft teilweise grundlegend.
Lässt sich die Zukunft der Welt und aller Atome im Universum berechnen? Eine Intelligenz, die alle Kräfte kenne, sei dazu in der Lage, meinte der französische Mathematiker Pierre-Simon Laplace (1749 – 1827): «Nichts wäre für sie ungewiss, Zukunft und Vergangenheit lägen klar vor ihren Augen.» Heute wissen wir: Laplace irrte, das Universum lässt sich niemals vollständig berechnen und vorhersagen. Das haben unter anderem die Relativitätstheorie und die Quantenphysik eindrucksvoll bewiesen.
Wirklich? Vielleicht kennt dieser sogenannte Laplace’sche Dämon eine Art Abkürzung, die es ihm erlaubt, von einer Ursache auf eine Wirkung zu schliessen, ohne sämtliche physikalischen Berechnungen dazwischen machen zu müssen. Diese Abkürzung gibt es tatsächlich und sie heisst maschinelles Lernen und Deep Learning mit neuronalen Netzen. Beide zählen zur künstlichen Intelligenz.
Maschinelles Lernen ist heute ein fester Bestandteil der Physik, der Chemie oder der Biologie und vieler anderer wissenschaftlicher Disziplinen. Meist geht es darum, Zusammenhänge zu erkennen, ohne den Rechenaufwand zu betreiben, der nötig wäre, um alle physikalischen Gleichungen im Sinne von Laplace zu lösen. Am PSI werden maschinelles Lernen, neuronale Netze und Methoden der künstlichen Intelligenz in vielen Projekten eingesetzt. Vier Beispiele zeigen, wie diese Methoden die Forschung am PSI verändern, man könnte sogar sagen: revolutionieren.
Materialforschung: Schluss mit Versuch und Irrtum
Was passiert in einer Lithium-Ionen-Batterie? Wird die Batterie geladen, wandern Lithium-Ionen in die Kathode hinein; wird die Batterie entladen, dann wandern die Ionen wieder aus der Kathode heraus. Dabei ändert sich die Zahl der Elektronen im Kathodenmaterial ständig, soviel ist bekannt. «Was dabei aber genau passiert, vor allem welche Kräfte wirken, das konnten Computerberechnungen bisher nur sehr schwer korrekt erfassen», sagt Nicola Marzari, Leiter des PSI-Labors für materialwissenschaftliche Simulationen und Professor an der ETH Lausanne EPFL. Dies sei aber entscheidend, um bessere Batterien etwa für Elektroautos zu bauen. Physiker wie Marzari berechnen diese Prozesse mit der Schrödinger-Gleichung, der fundamentalsten – aber leider auch sehr komplexen – Gleichung der Quantenphysik. Um die Dynamik von nur ein paar Lithium-Ionen während des Ladens und Entladens zu berechnen, bräuchte man die Rechenleistung aller Computer der Welt. Zum Glück gelang es dem Chemiker Walter Kohn 1965, die numerische Anwendung der Schrödinger-Gleichung zu vereinfachen.
Doch selbst in dieser Form übersteigt sie die heutigen Rechenkapazitäten. Da wäre es nützlich, wenn es eine Abkürzung gäbe, die die aufwendige Berechnung umgeht und von den Anfangsbedingungen direkt auf das Ergebnis schliesst – ohne das Verhalten jedes einzelnen Lithium-Ions betrachten zu müssen. Das klingt nach einer Aufgabe für maschinelles Lernen und genau das setzen Forschende seit einigen Jahren erfolgreich ein. «Unser Modell ist eine Blackbox, es liefert direkt die Dynamik der Lithium-Ionen ohne die Komplexität vollständiger Quantenberechnungen», sagt Marzari.
Zuvor muss das Modell trainiert werden. Dazu rechnet Marzari mit Walter Kohns Theorie viele verschiedene atomare Konfigurationen durch und variiert dabei Temperatur, Verschiebungen und die Diffusion aller Atome eines Materials. So erzeugt er physikalische «Schnappschüsse», die er in das Modell einspeist. Einmal trainiert, ist das Modell in der Lage, neue Schnappschüsse zu erzeugen, ohne dass dazu kompliziertes Formelwerk und massive Rechenleistung nötig wären. Das PSI-Team nutzt die Methode, um feste Elektrolyte für Batterien zu entwickeln, die nicht so leicht in Brand geraten wie die derzeitigen mit entflammbaren flüssigen Elektrolyten. Für die Energiespeicherung im grossen Massstab wäre es zudem interessant, Lithium durch andere, in der Erdkruste häufiger vorkommende Materialien wie Natrium, Magnesium oder Kalium zu ersetzen.
Bessere Materialien für Batterien sind nur ein Beispiel dafür, wie Quantensimulation und maschinelles Lernen die Materialforschung revolutionieren. Am PSI-Labor für materialwissenschaftliche Simulationen, das Teil des 2021 gegründeten Forschungsbereichs Computergestützte Wissenschaften, Theorie und Daten ist, werden rechnerische Verfahren zur Vorhersage und Charakterisierung von Materialeigenschaften weiterentwickelt. Dabei arbeitet das Labor eng mit der EPFL und MARVEL zusammen, das ebenfalls von Marzari geleitet wird. MARVEL steht für «Materials’ Revolution: Computational Design and Discovery of Novel Materials». Es ist einer der Nationalen Forschungsschwerpunkte NFS, der in der Periode von 2014 bis 2026 vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert wird. «Wir wollen verstehen, wie sich Materialien verhalten und welche Eigenschaften sie haben, um neue und bessere Materialien zu finden», erklärt der Wissenschaftler. «Wir können dies ohne experimentellen Input machen. Wir arbeiten tatsächlich nur auf Basis der grundlegenden Quantensimulation. Aber dann gehen wir zu unseren Kolleginnen und Kollegen am PSI, die Experimente durchführen, und arbeiten gemeinsam an der Synthese und den Tests dieser Materialien.»
Ein Beispiel, bei dem das Prinzip Versuch und Irrtum noch funktioniert hat, ist Graphen, eine nur Atomlage dünne Kohlenstoffschicht mit einer Vielzahl von wabenförmig angeordneten Kohlenstoffatomen. Es handelt sich dabei um eine zweidimensionale Plättchenform, welche Graphen seine vielen besonderen Eigenschaften verleiht. Jahrzehnte lang reinigten Forschende Grafit, das sie im Labor als Testmaterial verwendeten, indem sie einen Klebestreifen darauf klebten und abzogen. Als zwei Physiker 2004 erstmals den Schmutz auf dem Klebestreifen untersuchten, entdeckten sie die hauchdünnen Kohlenstoffschichten des Graphens. Graphen hat faszinierende Eigenschaften, was seinen Entdeckern 2010 den Nobelpreis eintrug.
Mit MARVEL hätte man Graphen vielleicht schon früher gefunden. Forschende des PSI und der EPFL haben mit ihren Computern die Eigenschaften von anorganischen, kristallinen Materialien wie Silizium, Galliumarsenid oder Perowskiten unter die Lupe genommen. Aus 80 000 bekannten anorganischen Verbindungen identifizierten sie mithilfe von quantenmechanischen Algorithmen, Simulation und maschinellem Lernen mehr als 2000 Materialien, die sich in zweidimensionale Schichten ablösen lassen. Letztere sollten sich aus dem dreidimensionalen Ausgangsmaterial herstellen lassen – genau so einfach, wie es bei Graphen aus Grafit gemacht wird.
Eine erste Erfolgsgeschichte dieser Arbeit war Jacutingaite. Dieses 2008 in Brasilien entdeckte Mineral besteht aus Platin, Quecksilber und Selen. Es hat fast die gleiche Struktur wie Graphen, ist aber viel schwerer. Mit seinen Simulationsmethoden hat Marzaris Team die einzigartigen elektrischen und magnetischen Eigenschaften von Jacutingaite vorhergesagt. Es ist das erste und einzige bekannte Material, das die Physik eines Quanten-Spin-HallIsolators verwirklicht, wie er 2005 von zwei theoretischen Physikern der Universität von Pennsylvania – Charles Kane und Gene Mele – erdacht wurde. Inspiriert von dieser Entdeckung, gelang es Experimentatoren der Universität Genf, Jacutingaite künstlich herzustellen und mithilfe von Synchrotronstrahlung zu untersuchen. Das Ergebnis: Die Prognosen wurden experimentell exakt bestätigt.
Kernkraftwerke: Störfälle sicher beherrschen
Das will man in keinem Kernkraftwerk erleben: Der Strom fällt aus, die Kühlmittelpumpe stoppt. Der Kernreaktor erreicht eine kritische Temperatur. Jetzt schnell Kühlwasser einleiten, um die Temperatur zu senken. Aber nicht zu viel, denn das hatte 2011 beim Unfall im japanischen Fukushima schlimme Folgen. So oder so ähnlich laufen die Szenarien ab, mit denen das Personal mögliche Störfälle in Kernkraftwerken regelmässig trainiert, um diese sicher zu beherrschen. Doch die Simulationen laufen weder schnell genug ab, noch stellen sie die physikalischen und chemischen Vorgänge im Reaktor ausreichend genau dar. Ausserdem bilden sie nur häufiger auftretende, leichtere Störfälle ab.
Ganz anders ist das bei den Bildern, die Terttaliisa Lind, Ingenieurin vom Labor für Reaktorphysik und Thermohydraulik am PSI, auf einem Bildschirm betrachtet. «Das ist kein Video», sagt sie, «das ist eine Simulation mit echter Physik, die in jedem Moment berechnet wird.» Greift eine Testperson in den Ablauf ein, etwa durch Öffnen eines Ventils, passt sich die Simulation sofort an. Doch wie ist das möglich? Die thermodynamischen und chemischen Prozesse in einem Kernreaktor sind so komplex, dass selbst die leistungsfähigsten Computer sie nicht in Echtzeit berechnen können. Was in der Realität eine Minute dauert, dafür braucht der Computer zehn Minuten. So lassen sich vor allem schwere Störfälle nicht realistisch simulieren. Andererseits sind manche Abläufe bei einem Störfall sehr langsam und können Stunden dauern. Die Probanden würden die meiste Zeit Däumchen drehen.
Was die Kraftwerksbetreiber brauchen, sind Simulationen, die in Echtzeit ablaufen, aber auch beschleunigt werden können, ohne dass die Genauigkeit darunter leidet. Exakt daran arbeitet Lind in einem Projekt für Euratom, eine Organisation zur Koordinierung und Überwachung der zivilen Nutzung von Kernenergie und Kernforschung in Europa. Ihr Team ist einer von vierzehn Partnern aus zehn europäischen Ländern. Das Projekt startete im November 2022 und läuft vier Jahre. Ziel des Projekts ist es, einen Simulator für ungewöhnliche und schwere Störfälle zu entwickeln, der die Abläufe realistisch, nach den Gesetzen der Physik, abbildet. «So etwas gibt es derzeit nicht», sagt Christophe D’Alessandro, Energieingenieur und Experte für ASTEC am PSI.
Bei ASTEC handelt es sich um einen in Frankreich entwickelten Systemcode zur Simulation von schweren Störfällen in Kernkraftwerken. Er berechnet thermohydraulische Grössen wie Druck und Temperaturen im Reaktorbehälter, den Kühlkreisläufen und dem Containment, er ist aber sehr langsam. In dem Euratom-Projekt entwickelt D’Alessandro den Simulator und nutzt dabei einen Trick: Das Modell überspringt die Vielzahl der physikalischen Formeln, für die der Computer so viel Zeit braucht, und schliesst direkt vom Anfang auf das Ende eines Zeitschritts, etwa wenn ein Proband ein Ventil öffnet. Wie das geht? Durch maschinelles Lernen. Das Modell wird mit vielen ASTEC-Simulationen gefüttert, irgendwann kann es Ursache und Wirkung verknüpfen und für neue Situationen das Ergebnis genauso korrekt vorhersagen, als hätte es alle Formeln durchgerechnet.
Wir erstellen Simulationen mit echter Physik, die in jedem Moment berechnet wird.
Krebsforschung: Tumoren auf der Spur
Früh erkannt, ist Krebs häufig heilbar. Ein wichtiger Schritt ist G.V. Shivashankar gelungen, Leiter des Labors für Biologie im Nanobereich am PSI und Professor für Mechano-Genomik an der ETH Zürich. Sein Team konnte belegen, dass Veränderungen in der Organisation des Zellkerns mancher Blutzellen einen sicheren Hinweis auf einen Tumor im Körper liefern. Die Forschenden erkennen mit maschinellem Lernen Gesunde und Erkrankte mit einer Treffsicherheit von rund 85 Prozent. Sie waren auch in der Lage, zwischen verschiedenen Tumoren korrekt zu differenzieren. Ausserdem gelang es ihnen, Melanom, Gliom oder Hals-Nasen-Ohrentumor korrekt zu unterscheiden. «Das ist das erste Mal weltweit, dass das jemand mit einem KI-basierten Biomarker für die Chromatin-Bildgebung geschafft hat», freut sich Shivashankar.
Die Tumore verraten sich durch das Chromatin der Blutzellen, so nennt sich die zu einer Art Knäuel verpackte Erbsubstanz DNA. Die Forschenden erfassten Fluoreszenz-Mikroskop-Bilder davon. Diese werteten sie mithilfe der KI aus und trainierten die KI zusätzlich damit. Das verspricht potenzielle Ansätze zur Frühdiagnose oder zur Bewertung der therapeutischen Ergebnisse.
Atmosphärenchemie: tausend Mal schneller rechnen
Man sieht sie nicht, aber sie sind überall: Aerosole, winzige Partikel in der Luft aus Staub, Salz, Pollen, Abgasen, Reifenabrieb und vielen anderen Quellen. Während Landbewohner mit jedem Kubikzentimeter Luft nur einige Hundert Partikel einatmen, können es in Ballungsräumen etliche Zehntausende sein – mit entsprechenden Risiken für die Gesundheit. Forschende der Atmosphärenchemie messen rund um den Erdball Menge und Art der Aerosole mit Lichtstreuexperimenten an Bord von Satelliten, Flugzeugen und Messstationen am Boden, um die Entstehung und die Auswirkungen von Aerosolen zu verstehen.
Dabei gibt es ein Problem: Je nach den Eigenschaften der Aerosole ändern sich die Messdaten. Aber wie schliesst man umgekehrt aus den Messdaten auf die Eigenschaften der Aerosole? Robin Modini und das Team für Aerosolphysik und Optik am Labor für Atmosphärenchemie des PSI haben dazu in den letzten Jahren bahnbrechende Erkenntnisse gewonnen – durch Training von künstlichen neuronalen Netzen im Computer, die häufig zu Erkennung von Mustern eingesetzt werden. Die Forschenden simulieren zunächst mithilfe physikalischer Gleichungen die von den Aerosolen erzeugten Streumuster des Lichts, dann trainieren sie das neuronale Netz mit diesen virtuellen Mustern. Das neuronale Netz gibt daraufhin die Eigenschaften der Aerosole für bestimmte Messdaten aus. Und dann wird ein fast magischer Trick angewendet: Die Polarität des neuronalen Netzes lässt sich umkehren, es kann somit verwendet werden, um Lichtstreuungsmuster für bestimmte Aerosoleigenschaften zu bestimmen.
Wie verblüffend gut das schon funktioniert, zeigen Kontrollmessungen im Labor. Proben aus der Luft werden in ein Polar-Nephelometer geleitet, welches das Laserlicht misst, das von den Aerosolen gestreut wird. Diese Messungen passen sehr gut zu der Theorie und zu den Vorhersagen des neuronalen Netzes. Die Forschenden haben damit ein mächtiges Instrument in der Hand, um die Daten aus den Lichtstreumessungen von Satelliten oder Flugzeugen besser interpretieren zu können. Doch damit nicht genug: Weil nach dem Training des neuronalen Netzes die physikalischen Gleichungen aussen vor bleiben, ist die Methode extrem schnell. «Mit maschinellem Lernen berechnen wir die Eigenschaften von Aerosolen tausend Mal schneller als früher», sagt Robin Modini. Die PSI-Forschenden wollen diese Entwicklungen der Algorithmen mit ihrer Langzeit-Aerosolüberwachung kombinieren, die seit 1995 kontinuierlich auf dem Jungfraujoch durchgeführt wird.
Text: Bernd Müller
Über das PSI
Das Paul Scherrer Institut PSI entwickelt, baut und betreibt grosse und komplexe Forschungsanlagen und stellt sie der nationalen und internationalen Forschungsgemeinde zur Verfügung. Eigene Forschungsschwerpunkte sind Zukunftstechnologien, Energie und Klima, Health Innovation und Grundlagen der Natur. Die Ausbildung von jungen Menschen ist ein zentrales Anliegen des PSI. Deshalb sind etwa ein Viertel unserer Mitarbeitenden Postdoktorierende, Doktorierende oder Lernende. Insgesamt beschäftigt das PSI 2200 Mitarbeitende, das damit das grösste Forschungsinstitut der Schweiz ist. Das Jahresbudget beträgt rund CHF 420 Mio. Das PSI ist Teil des ETH-Bereichs, dem auch die ETH Zürich und die ETH Lausanne angehören sowie die Forschungsinstitute Eawag, Empa und WSL. (Stand 06/2023)
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