Experimente in Millionstelsekunden

Myonen – instabile Elementarteilchen – bieten Forschenden wichtige Einblicke in den Aufbau der Materie. Sie liefern Informationen über Vorgänge in modernen Materialien, über die Eigenschaften von Elementarteilchen und über die Grundstrukturen der physikalischen Welt. Viele Myonenexperimente sind nur am Paul Scherrer Institut möglich, weil hier ein besonders intensiver Myonenstrahl zur Verfügung steht.

Grosse Mengen an Myonen

Thomas Prokscha am Experiment zur Untersuchung von Materialien mit langsamen Myonen. Zu sehen ist der Detektor, in dem die Teilchen nachgewiesen werden, die beim Zerfall der Myonen entstehen.
Umschlag des Nature-Heftes, in dem über die Messung des Protonenradius mithilfe von Myonen am PSI berichtet wurde. Das Myon ist durch die kleine violette Kugel repräsentiert. (Reprinted by permission from Macmillan Publishers Ltd: Pohl, R. et al. Nature 466, 213-217 (2010))
Experiment zum Myonenzerfall: die PSI-Forscher Peter-Raymond Kettle (links) und Stefan Ritt vor dem Strahlrohr, durch das die Myonen zum Experiment geleitet werden.
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Die Welt könnte so einfach sein. Schliesslich reichen ja drei Arten von Bausteinen, um alle Dinge aufzubauen: die Neutronen und Protonen, die die Atomkerne bilden, und die Elektronen, die sie umgeben und dafür sorgen, dass sich die Atome miteinander verbinden. So entstehen alle Elemente – ob Wasserstoff, Sauerstoff oder Gold. Und daraus alles Weitere: Wir selbst und alles, was uns umgibt. Doch ganz so einfach ist die Welt dann doch nicht, sie hält noch viele weitere Teilchen bereit. Darunter die Myonen – gewissermassen schwere Brüder der Elektronen, 200-mal mehr Masse, aber sonst sehr ähnlich. Zum Aufbau von Dingen aber völlig ungeeignet. Denn kaum sind sie entstanden, zerfallen sie schon wieder in andere Teilchen. Im Durchschnitt leben sie nur 2 Millionstelsekunden. Unnütz sind sie aber keineswegs: Sie sind grossartige Werkzeuge für die Wissenschaft.

Forscher haben schon in den Vierzigerjahren Myonen als winzige Uhren genutzt und so einen wichtigen Aspekt von Einsteins Relativitätstheorie getestet. Dabei haben sie die Myonen verwendet, die unablässig vom Himmel auf uns niederprasseln. Sie entstehen, wenn schnelle Protonen aus den Tiefen des Weltalls in der Erdatmosphäre mit Atomkernen der Luftmoleküle kollidieren. Forschende des PSI erkunden mit Myonen hingegen den Aufbau der Materie – die Eigenschaften einzelner Teilchen, genauso wie Vorgänge im Inneren komplex aufgebauter Materialien. Dafür genügen aber die Teilchen, die vom Himmel fallen, nicht. Die Forscher brauchen mehr, sehr, sehr viel mehr Myonen. Denn erst wenn sie eine Messung mit Millionen und Abermillionen von Myonen wiederholen, haben sie genug Daten für eine genaue Messung gesammelt. So erzeugt man die Myonen am PSI in sehr heftigen Kollisionen, bei denen sehr schnelle Protonen aus dem grossen Teilchenbeschleuniger des PSI auf eine rotierenden Kohlenstoffring prallen; dabei entstehen auch neue Teilchen, unter anderem Myonen, die man für Experimente nutzen kann. Am Ende hat man die intensivsten Myonenstrahlen der Welt. Was die Forscher freut: Denn viele Myonenmessungen kann man nur in realistischer Zeit durchführen, wenn zuverlässig ein Myon für die nächste Messung nachgeliefert wird, sobald das vorherige zerfallen ist. Deshalb sind einige Experimente weltweit nur am PSI möglich.

Magnetismus im Material

Die Forschenden des PSI-Labors für Myonspin-Spektroskopie untersuchen mit Myonen Magnetfelder im Inneren von Materialien. In vielen Materialien spielt der Magnetismus eine entscheidende Rolle. Zum Beispiel in einigen Supraleitern, die elektrischen Strom ganz ohne Verlust leiten können. „Man weiss bis heute nicht, wie die Supraleitung in sogenannten Hochtemperatursupraleitern zustande kommt. Klar ist aber, dass der Magnetismus eine wesentliche Rolle spielt und die Myonenforschung zu der Lösung des Rätsels beitragen kann“, erklärt Rustem Khasanov, einer der Myonenforscher am PSI.

Ein aktuelles Forschungsthema sind auch Materialien, die aus übereinandergelagerten Schichten verschiedener Substanzen bestehen – jede Schicht Bruchteile eines Tausendstelmillimeters dick. Sie haben oft unerwartete Eigenschaften, die man vielfach in der Elektronik nutzen kann: So kann man die Festplatten in einem iPod erst so klein machen, seit man Leseköpfe aus solchen Schichtmaterialien herstellt. Im Experiment wollen die Forscher die einzelnen Schichten getrennt untersuchen. Nicht einfach, wenn man bedenkt, dass das Myon in das Material „hineingeschossen“ wird und genau in der Schicht stecken bleiben soll, für die man sich gerade interessiert.

„Wir nutzen „langsame“ Myonen, die genau die passende Geschwindigkeit haben, um in die richtige Tiefe im Material zu kommen. Dazu bremst man das zunächst sehr schnelle Myon fast bis zum Stillstand ab, beschleunigt es dann wieder bis zu genau der benötigten Geschwindigkeit und schiesst es in das Material hinein. Dort bleibt es stecken und zerfällt in andere Teilchen“, erklärt Thomas Prokscha, der an dem Experiment arbeitet. Aus deren Flugrichtung kann man auf die magnetischen Vorgänge schliessen. Das alles muss in Millionstelsekunden geschehen – erzeugen, anhalten, beschleunigen, stoppen im Material. Bislang geht das nur am PSI. Wie man bisher überhaupt nur an vier Orten weltweit Materialien mit Myonen untersuchen kann. Am PSI gibt es insgesamt sechs Messplätze für Materialforschung mit Myonen, die alle ihre besonderen Möglichkeiten bieten. So kann man hier mit Myonen zum Beispiel untersuchen, wie sich Materialien in starken Magnetfeldern oder unter hohem Druck verändern.

Teilchen vermessen

Während sich die Materialforscher für Effekte in Materialien aus vielen Protonen, Neutronen und Elektronen interessieren, untersuchen die Teilchenphysiker mit Myonen die Bausteine selbst. Zum Beispiel haben sie das Proton so genau vermessen wie noch niemand vorher und herausgefunden, dass es kleiner ist als angenommen – eine kleine Sensation. Aldo Antognini, einer der beteiligten Forscher: „In dem Experiment haben wir im Wasserstoffatom, das normalerweise aus einem Proton und einem Elektron besteht, das Elektron durch ein Myon ersetzt, das sich nach den Gesetzen der Quantenmechanik deutlich häufiger nah am Proton aufhalten kann. So hängen die Eigenschaften des „myonischen Atoms“ stärker von der genauen Struktur des Protons ab.“ Auch hier muss alles in Millionstelsekunden passieren – das myonische Atom erzeugen und vermessen. Dafür musste man einen speziellen Laser entwickeln, der schnell genug reagiert. Und sobald das Myon zerfallen ist, möchte man gleich das nächste hinterherschicken. Denn für die nötige Genauigkeit des Experiments muss man sehr viele Atome vermessen – und da hilft jedes Myon.

Doch die Myonen am PSI sind nicht nur Werkzeuge für Experimentatoren, sie sind auch selbst wichtige Untersuchungsobjekte. Zum Beispiel wenn es um die Suche nach dem extrem seltenen Zerfall des positiven Myons in ein Positron und ein Lichtteilchen geht. Ein Positron ist das positiv geladene Antimaterie-Pendant zum Elektron. Ein Zerfall des Myons in ein Positron und ein Lichtteilchen wurde aber noch nie beobachtet. Das Standardmodell, die konventionelle Theorie, mit der heutzutage die Welt der Elementarteilchen beschrieben wird, sagt in seiner aktuellen Fassung voraus, dass ein einziges Myon unter 1050 (das ist eine 1 mit 50 Nullen dahinter) in ein Positron und ein Lichtteilchen zerfällt. Das kann man nicht messen – auch wenn man ein realistisches Experiment über die ganze Lebensdauer des Universums betreiben würde, sähe man keinen einzigen solchen Zerfall. «Andere Theorien sagen für diesen Zerfall aber sehr viel höhere Wahrscheinlichkeiten voraus – ein Zerfall unter 1012 oder 1013. Das kann man messen. Aber nur am PSI», erklärt Stefan Ritt, Mitglied des Experiment- Teams. «Denn auch in diesem Fall müssen wir sehr viele Myonenzerfälle beobachten, um eine Chance zu haben, den gesuchten Zerfall auch nur ein einziges Mal zu sehen. Sollten wir ihn aber sehen, wäre das ein Hinweis auf ‹neue Physik› – darauf, dass die richtige Beschreibung der Welt in einer der neuen Theorien zu finden ist, die als Erweiterungen zum Standardmodell vorgeschlagen werden.» So hätte man durch Untersuchung des Myons, nicht nur mehr über das Myon selbst gelernt, sondern auch über die Grundstrukturen und Kräfte der physikalischen Welt.

Text: Paul Piwnicki

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