Krebsmedikament aus der Neutronenquelle des PSI

Mit der Grossforschungsanlage SINQ produzieren Forschende am Paul Scherrer Institut PSI Radionuklide für die medizinische Forschung. Besonders vielversprechend ist das radioaktive Metall Terbium-161. Gekoppelt an einen Molekülkomplex dockt es im Körper gezielt an Tumorzellen und kann diese durch seine Teilchenstrahlung zerstören. PSI-Forschende haben damit ein Medikament entwickelt, das Krebs effizienter bekämpfen soll als bisher verwendete Wirkstoffe. Ein erster Heilversuch an Patienten ist in einem Jahr geplant.

Roger Schibli (r.) und Nicholas van der Meulen in einem Hotlabor, wo ein Teil der Isotopenproduktion stattfindet
(Foto: Scanderbeg Sauer Photography)

«Wir betrachten Terbium-161 als therapeutisches Radionuklid der Zukunft», sagt Nicholas van der Meulen, Leiter der Forschungsgruppe Radionuklid-Entwicklung am PSI. Schon heute gibt es radioaktive Medikamente, sogenannte Radiopharmaka, die aus einem Molekül und einem daran gekoppelten Radionuklid bestehen. Sie werden Krebspatienten in den Blutkreislauf injiziert. Das speziell entwickelte Radiopharmakon gelangt im Körper zum Tumor und heftet sich gezielt an die Krebszellen an. Dann kann die Strahlung ihre zerstörerische Wirkung präzise entfalten. Mit Terbium-161 hoffen die Forschenden am PSI, ein Radionuklid gefunden zu haben, das sich besonders gut für diese Form der Therapie eignet.

In der Natur kommt nur stabiles Terbium-159 vor. Andere Formen von Terbium, sogenannte Isotope, sind instabil und zerfallen meist innerhalb weniger Stunden oder Tage. Das radioaktive Isotop Terbium-161 hat beispielsweise im Atomkern gleich viele Protonen wie das stabile Isotop, aber zwei zusätzliche Neutronen und muss künstlich hergestellt werden. Dazu braucht es Neutronen, wie sie in einem Kernreaktor oder in der Schweizer Spallations-Neutronenquelle SINQ des PSI erzeugt werden. «An der SINQ fügen wir den Atomkernen von stabilen Isotopen Neutronen hinzu und machen sie dadurch instabil», erklärt Roger Schibli, Leiter des Zentrums für radiopharmazeutische Wissenschaften am PSI und Professor an der ETH Zürich. Die so erzeugten instabilen Isotope wandeln wiederum ein Neutron in ein Proton um und geben gleichzeitig ein Elektron ab, was im Fachjargon Betazerfall genannt wird. «Dieses Elektron kann man für die Krebstherapie brauchen», sagt Schibli. Je nachdem, wie viel Energie dieses Elektron hat, kann es kürzere oder längere Wegstrecken zurücklegen. Wenn es seine Energie abgibt, kann es die Erbsubstanz DNA der Krebszelle schädigen oder Radikale bilden, die weitere zerstörerische Effekte auf Krebszellen entfalten.

Per Rohrpost in die Mitte der Neutronenquelle

«Die Produktion von Terbium-161 ist ein Highlight an der SINQ», sagt van der Meulen. Doch sie läuft über einen Umweg. Ausgangsmaterial ist ein anderes, verwandtes Element: Gadolinium, ein Metall der Seltenen Erden wie Terbium. Wenige Milligramm werden in einer Ampulle aus Quarzglas versiegelt und diese in eine Transportkapsel aus Aluminium eingeschweisst. Diese Kapsel wird durch ein kurzes System von Röhren automatisch von aussen ins Zentrum der SINQ geschossen. Das Transportsystem funktioniert wie eine Rohrpost. Im Zentrum wird die Kapsel mit Neutronen bestrahlt. Fängt Gadolinium-160 ein Neutron ein, so entsteht Gadolinium-161, bei dem aber innert Minuten ein Neutron in ein Proton und ein Beta-Partikel zerfällt. Der Atomkern enthält nun ein Proton mehr, ein neues Element ist entstanden: das gewünschte Terbium-161, das mit einer Halbwertszeit von sieben Tagen zerfällt.

Wurde die Ampulle zwei bis drei Wochen lang in der SINQ bestrahlt, wird sie als radioaktive Fracht in einem Spezialbehälter ins Radiochemie-Labor transportiert. Hier müssen die Forschenden das gewünschte Terbium-161 vom immer noch vorhandenen Gadolinium trennen – eine komplizierte Aufgabe, die in abgeschirmten, sogenannten «Heissen Zellen» hinter Bleiblöcken und Bleiglasfenstern bei Unterdruck stattfindet. Mit von aussen gesteuerten Greifarmen platziert ein Forscher das bestrahlte Material und bedient kleine Ventile und Pumpen. «Die Apparatur und das Verfahren haben wir selbst hier am PSI entwickelt», sagt van der Meulen.

Die Nadel aus dem Heuhaufen herausholen

Das wichtigste Utensil dabei ist eine 20 Zentimeter lange Trennsäule, die ein besonderes Harz enthält. Darauf tropft die Flüssigkeit, in der das Ausgangsmaterial gelöst ist. Das Harz wirkt wie eine Art Filter auf die in der Flüssigkeit gelösten Elemente Gadolinium und Terbium. Das eine Element – Gadolinium – bleibt länger am Harz hängen, während das andere – Terbium – weiterrutscht. So lassen sich die beiden Substanzen trennen. Nach einem weiteren Reinigungsschritt erhält man eine farblose Lösung, die Terbium-161 in so reiner Form enthält, dass man damit Moleküle radioaktiv markieren kann. «Mit diesem Verfahren separieren wir die Nadel aus dem Heuhaufen», sagt Schibli.

In der Fachwelt ist das Interesse an solchen Radiopharmaka, die Tumore direkt im Körper bestrahlen, gross. So kaufte Novartis in den vergangenen zwei Jahren für mehrere Milliarden Franken zwei Firmen, die je ein radioaktives Medikament entwickeln. Das eine wird für die Behandlung sogenannter neuroendokriner Tumore eingesetzt. Diese treten meist in Magen, Darm oder Bauchspeicheldrüse auf. Das andere soll Prostatakrebs bekämpfen. Beide Medikamente enthalten als Radionuklid Lutetium-177, das klinisch zugelassen und bereits seit einiger Zeit bei Patienten im Einsatz ist. Das Element Lutetium ist wie Terbium ein Metall der Seltenen Erden. Die beiden Metalle ähneln sich chemisch sehr, doch beim radioaktiven Zerfall zeigen sich Unterschiede. Terbium-161 sendet zusätzlich zum Beta-Partikel noch «normale» Elektronen aus, die für die Therapie einzelner Krebszellen besonders geeignet sind.

Kurzer Weg – grosse Zerstörung

Die Beta-Partikel werden beim radioaktiven Betazerfall direkt aus dem Atomkern ausgestossen, wenn ein Neutron in ein Proton und ein Elektron zerfällt. Zusätzliche Elektronen können aber auch aus der Atomhülle der Radionuklide freigesetzt werden. Dieser Effekt wurde in den 1920er-Jahren von den Physikern Pierre Auger und Lise Meitner entdeckt. Die Teilchen werden heute als Auger-Elektronen bezeichnet. Beta-Partikel haben eine hohe Energie, während Auger-Elektronen bedeutend weniger energiereich sind. Was auf den ersten Blick nachteilig erscheint, erweist sich bei der Tumorbekämpfung als Vorteil. Die Beta-Partikel (Elektronen mit hoher Energie) können in Wasser ein paar Millimeter weit fliegen, durchdringen also einige Zelldurchmesser und richten über eine grosse Wegstrecke Schaden an. Auger-Elektronen hingegen fliegen nur ein paar Mikrometer weit. Die Energie, die sie abgeben, durchdringt nur eine Zelle und wirkt deshalb nur dort, dafür viel zerstörerischer.

«Wenn wir es schaffen, an die DNA heranzukommen, zerstört ein Auger-Elektron diese viel effizienter als ein Beta-Partikel», sagt Schibli. Während die Ausbeute an Auger-Elektronen bei Lutetium-177 relativ gering ist, liegt sie bei Terbium-161 viel höher. Deshalb sind die PSI-Forschenden überzeugt, dass sie auf dem richtigen Weg sind. «Wir waren die ersten, die grössere Mengen von Terbium-161 hergestellt haben und damit forschten», sagt van der Meulen – eine Pionierarbeit, die international auf Anerkennung stösst. 2018 erhielt Cristina Müller, Gruppenleiterin bei Roger Schibli am Zentrum für radiopharmazeutische Wissenschaften, den Marie-Curie-Award für ihre Forschungen zur Anwendung von Terbium-161 bei der Therapie von Prostatakrebs. Nun wollen die Forschenden zeigen, dass ihr Radionuklid auch in Patienten besser wirkt als das heute bereits eingesetzte Lutetium-177. Unterstützt durch einen Förderbeitrag der US-amerikanischen Stiftung «Neuroendocrine Tumor Research Foundation» planen sie Ende 2020 im Rahmen einer klinischen Machbarkeitsstudie einen ersten Heilversuch in Zusammenarbeit mit einem medizinischen Zentrum in Bad Berka in Deutschland.

Text: Barbara Vonarburg

Kontakt/Ansprechpartner

Prof. Dr. Roger Schibli
Zentrum für radiopharmazeutische Wissenschaften
Paul Scherrer Institut, Forschungsstrasse 111, 5232 Villigen PSI, Schweiz
Telefon: +41 56 310 28 37, E-Mail:
roger.schibli@psi.ch [Deutsch, Englisch]

Dr. Nicholas van der Meulen
Gruppe Radionuklidentwicklung
Paul Scherrer Institut, Forschungsstrasse 111, 5232 Villigen PSI, Schweiz
Telefon: +41 56 310 50 87, E-Mail:
nick.vandermeulen@psi.ch [Englisch]