Künstliche Intelligenz erkundet das Erdreich

Forschende am Paul Scherrer Institut PSI haben gezeigt, dass künstliche neuronale Netzwerke in der Lage sind, die Beschaffenheit von Gesteinsschichten, wie zum Beispiel ihre mineralogische Zusammensetzung, anhand von Bohrkernbildern sehr genau zu bestimmen. Das könnte künftige geologische Erkundungen beschleunigen und Kosten optimieren. 

Romana Boiger verbessert mithilfe künstlicher Intelligenz die Erkundung von tiefen Erdschichten und die Auswertung von Bohrkernen. © Paul Scherrer Institut PSI/Markus Fischer

Erkundungen des Erdreichs sind oft zeitaufwändig und kostspielig. Doch ohne Wissen über die Beschaffenheit tiefer Schichten lassen sich viele wichtige Fragen nicht beantworten: Können Daten für zukünftige Erkundungen rund ums Endlager schnell und zuverlässig vorausgesagt werden? Ist das Erdreich an einer bestimmten Stelle für Tiefengeothermie oder für die Erdgasförderung brauchbar? Sind die geologischen Verhältnisse in 1500 Metern Tiefe geeignet für Kohlendioxidspeicher? Um die Beantwortung dieser und vieler weiterer Fragen zu erleichtern, arbeitet Romana Boiger vom Labor für Endlagersicherheit am PSI Center for Nuclear Engineering and Sciences daran, neue Werkzeuge aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz für geologische Erkundungen zu etablieren.

Boigers besondere Aufmerksamkeit gilt dabei sogenannten künstlichen neuronalen Netzwerken. Diese bestehen aus mehreren Schichten von verknüpften künstlichen Neuronen. Das sind letztlich mathematische Formeln, die eingegebene Daten verarbeiten und ein Ergebnis liefern. Das Besondere daran: Künstliche neuronale Netzwerke sind lernfähig. Ein künstliches neuronales Netzwerk, das beispielsweise Äpfel von Birnen unterscheiden soll, lässt sich darauf trainieren, indem man ihm Bilder von Äpfeln und Birnen präsentiert und ihm gleichzeitig die richtige Interpretation liefert. Nach einer gewissen Anzahl von Trainingsdurchläufen ist das künstliche neuronale Netzwerk dann in der Lage, auch fremde Bilder von Äpfeln oder Birnen richtig einzuordnen.

Boiger, Mathematikerin mit Schwerpunkt Data Science und Machine Learning, nutzt bei ihrer Forschung eine Sonderform der künstlichen neuronalen Netzwerke, die Convolutional Neuronal Networks (CNN), übersetzt: gefaltete neuronale Netzwerke. Diese sind besonders geeignet, um Muster und einfache Merkmale in Bildern zu identifizieren und zu analysieren.

Wissenschaftliches Neuland

Mit Letzterem befasst sich die Studie, die Boiger und Kollegen im Mai 2024 im Fachblatt Swiss Journal of Geosciences veröffentlicht haben, welche das Ergebnis einer interdisziplinären Zusammenarbeit von Wissenschaftlern des PSI und Experten der Geologie und Langzeitsicherheit bei der Nagra war. In einem ersten Schritt analysierten sie basierend auf CNNs Bilder von Bohrkernen, die aus dem Bohrloch Trüllikon in der Nordschweiz stammten. Dies war Teil vom Explorationsprogramm der Nagra im Rahmen der Standortsuche für ein Tiefenlager. Das Testintervall umfasste insgesamt 55 Meter Bohrkern aus einer Tiefe zwischen 770 und 939 Metern. «Wir wollten herausfinden, ob es möglich ist, ausschliesslich mit Bohrkernbildern die lithologischen Formationen und vor allem die mineralogische Zusammensetzung des Gesteins – wie den Anteil an Kalzit, Ton oder Silikaten – möglichst genau zu bestimmen.» Zur Ermittlung der Lithologie, also der Eigenschaften, deren Beobachtung ohne Zuhilfenahme eines Mikroskops mit blossem Auge noch möglich ist, existieren bereits Studien. Die Bestimmung der Mineralogie auf diese Art ist dagegen wissenschaftliches Neuland. «Das hat vorher noch niemand so gemacht.»

Für ihre Untersuchungen nutzte Boiger künstliche neuronale Netze, die bereits trainiert waren. Sie hatten vorher mit Aufnahmen aus der ImageNet-Datenbank, einer Sammlung von gut 14 Millionen Bildern, gelernt, Aufnahmen von Fahrzeugen, Tieren, Personen, Früchten, aber auch geologischen Formationen und Gesteine zu unterscheiden.

So besassen die CNN-Modelle bereits eine gewisse Grundlage, als ihnen die Trüllikon-Bohrkernbilder vorgesetzt wurden. Die 10 cm dicken Bohrkerne verschiedener geologischen Einheiten, sogenannten Formationen – wurden systematisch nach dem Waschen fotografiert. Die Fotografien wurden anschliessend in Scheiben unterteilt. Boiger und Kollegen gingen nun schrittweise vor: Sie erweiterten das vortrainierte CNN um ein paar Schichten, welche sie dann speziell darauf trainierten, anhand der Bilder die lithologischen Formationen zu unterscheiden. So entstand ein neues, grösseres CNN-Modell. Dieses wurde dann noch einmal um ein paar Schichten erweitert – und schliesslich auf die Erkennung der mineralogischen Zusammensetzung trainiert.

Auflösung von einem Zentimeter anvisiert

Das trainierte künstliche neuronale Netzwerk, das Boiger einsetzte, erledigte seine Aufgabe mit Bravour und bestimmte die lithologischen Formationen des Trüllikon-Bohrkerns mit einer Genauigkeit von 96 Prozent. Auch die Bestimmung der mineralogischen Zusammensetzung nur anhand von Bohrkernbildern, die wissenschaftliche Neuerung, klappte ausgezeichnet. Die Ergebnisse des neuronalen Netzes und der Standardmethode wurden mit den Ergebnissen von unabhängigen Labormessungen verglichen – und die Qualität war bei beiden Modellen gleich gut. «Unsere Methode trägt dazu bei, künftige geologische Erkundungen effizienter, kostengünstiger, präziser und objektiver zu gestalten», erklärt Boiger den Nutzen des neuen Verfahrens, «gleichgültig, ob es um die erweiterten Erkundungen rund ums Tiefenlager oder der Suche nach Standorten für CO2-Speicher oder geothermische Projekte geht.»

Das Problem bei bisherigen Methoden: Sie kosten nicht nur viel Zeit und Geld, sondern haben auch in puncto Auflösung ihre Grenzen. Bei herkömmlichen Methoden wie die der MultiMin, der Standardmethode zur Bestimmung der Mineralogie entlang von Bohrkernen, zeigt sich das exemplarisch. Hier werden drei Dinge kombiniert: Messungen während der Bohrung, Labormessungen sowie statistische Methoden. Genaue Werte liefern nur die Labormessungen, jedoch sind diese aufwändig. Deswegen kann nicht einfach jeder Zentimeter oder jeder fünfte Zentimeter Bohrkern labortechnisch analysiert werden. In der Praxis ist es so, dass es mal Messungen in Abständen von zum Beispiel zehn oder zwanzig Zentimetern gibt, mal aber auch Messungen in Abständen von mehreren Metern. Die Laborwerte, die für MultiMin nötig sind, weisen also teils sehr grosse Lücken auf.

Boiger will mit künstlichen neuronalen Netzwerken ein viel genaueres Bild vom Untergrund bekommen. «Wir können das Netz so trainieren, dass wir am Ende genau die gewünschte Auflösung bekommen, zum Beispiel einen Zentimeter. Das bedeutet, ähnlich wie einen Brotlaib in ein Zentimeter dünne Scheiben zu schneiden, werden die Bilder des Bohrkerns geschnitten und dann wird für jede Scheibe die Mineralogie oder eine andere Gesteinseigenschaft bestimmt. » Mit CNNs sind solche Auflösungen ohne weiteres möglich – und zwar ohne grossen Zeit- und Kostenaufwand, da Werte aus Labormessungen für die Bestimmung der Mineralogie, Dichte, etc. in einer groben Auflösung nur während der Trainingsphase benötigt werden. «Wenn das trainierte Modell gut genug ist, sind wir fast unabhängig von den Laborwerten. Die Bilder allein reichen aus, um die Mineralogie zu bestimmen.»

Netzwerk wird zum Allrounder

CNNs haben das Potential, die Standardmethode MultiMin zu ergänzen oder in manchen Anwendungen zu ersetzen, glaubt Boiger. Dafür plant sie, diese weiter zu trainieren und mit noch mehr Daten zu füttern. Denn je mehr Daten ins Training einfliessen, desto präziser werden die Modelle – Zuverlässigkeit und Aussagekraft der Ergebnisse verbessern sich so erheblich. CNNs liessen sich in Zukunft auch sofort einsetzen, wenn eine neue Tiefbohrung im selben Gebiet durchgeführt wird. «Das Modell wäre dann schon fertig vortrainiert mit Bildern von anderen Bohrkernen und könnte innerhalb von Sekunden anzeigen, was und wie viel von welchem Mineral vorhanden ist – und zwar an fast jeder Stelle des Bohrkerns.» Eine weitere Idee, die das Team derzeit untersucht: Künftige Modelle sollen neben Lithologie und Mineralogie auch Parameter wie Permeabilität und Diffusivität berechnen können. Gut möglich, dass sich die CNNs mit der Zeit zu wahren geologischen Allroundern entwickeln.

Kontakt
Dr. Romana Boiger
PSI Center for Nuclear Engineering and Sciences
Paul Scherrer Institut PSI

+41 56 310 53 73
romana.boiger@psi.ch
[Deutsch, Englisch]

  • Boiger R, Churakov SV, Ballester Llagaria I, Kosakowski G, Wüst R, Prasianakis NI
    Direct mineral content prediction from drill core images via transfer learning
    Swiss Journal of Geosciences. 2024; 117: 8 (26 pp.). https://doi.org/10.1186/s00015-024-00458-3
    DORA PSI