Lausanne-Villigen retour

Nirgendwo auf der Welt wurden bereits so viele Augentumore mit Protonen bestrahlt wie am Paul Scherrer Institut PSI. Doch bevor die betroffenen Patienten nach Villigen gehen, müssen sie nach Lausanne: zur Vorbehandlung bei Ann Schalenbourg in der Jules-Gonin-Augenklinik. Die seit mehr als dreissig Jahren bestehende Zusammenarbeit zwischen der Klinik und dem PSI ist einzigartig und rettet den meisten Patienten ihr krankes Auge.

Es gibt Orte in der Schweiz, wo die Zeit schneller vergeht und der Takt des Alltags höher scheint. Das Umfeld von Ann Schalenbourg ist ein solcher Ort. Wenn die energische hochgewachsene Frau in ihr Behandlungszimmer eilt, sprüht sie vor Energie und ihr weisser Kittel flattert über dem schwarzen Deuxpièces. Ann Schalenbourg ist Ärztin und leitet die augenonkologische Abteilung für Erwachsene an der Jules-Gonin-Augenklinik in Lausanne. Seit mittlerweile 23 Jahren arbeitet Schalenbourg hier, und wenn man ihr das zu Beginn ihrer Karriere prophezeit hätte, hätte die gebürtige Belgierin nur gelacht: Eigentlich wollte ich vor allem den grauen Star behandeln.

Doch dann folgte sie ihrem Mann nach Lausanne und alles kam anders. Die einzige Arbeitsstelle, die es damals für die junge Ärztin gab, war in der Augenonkologie. Dorthin kommen Patienten mit schwarzem Hautkrebs im Auge oder Gefässknäueln am Augenhintergrund. Ich hätte niemals gedacht, dass ich fast mein ganzes Berufsleben der Behandlung von Augentumoren verschreiben werde, sagt Schalenbourg heute. Aber es macht mich dankbar und glücklich, denn ich kann meinen Patienten die beste Behandlung offerieren, die es gibt.

Erster Einsatz in Europa

Die beste Behandlung – damit meint die Ärztin Protonenbestrahlung am PSI in Villigen. Dort ist diese Bestrahlungstechnik seit den Achtzigerjahren im Einsatz. Physiker eines Vorläuferinstituts des PSI perfektionierten damals gemeinsam mit dem Lausanner Augenarzt Leonidas Zografos ein Verfahren, das Tausenden von Patienten ihre Augen retten sollte: Sie bestrahlten erstmals in Europa bösartige Tumore am Augenhintergrund mit Protonen.

Dr. Ann Schalenbourg bei der Untersuchung einer Patientin. (Foto: Scanderbeg Sauer Photography)

Protonen treffen ihr Ziel bei der Bestrahlung millimetergenau. Das macht sie zum idealen Werkzeug für den Einsatz am Auge, denn jeder zu viel bestrahlte Millimeter bedeutet ein Stück Sehverlust. Doch Zografos und seine einstige Schülerin Schalenbourg wissen, wie man das vermeidet. In einer Operation nähen sie rund um den Tumor winzige Metallclips an die Rückseite des Augapfels. Diese dienen den Spezialisten am PSI als Marker, anhand derer sie den Tumor orten und zielsicher bestrahlen können. Die Zusammenarbeit zwischen dem PSI und der Jules-Gonin-Augenklinik ist sehr eng, sagt Alessia Pica, Radiologin am Zentrum für Protonentherapie des PSI. Bevor ein Patient zur Bestrahlung zu uns kommt, wird er in Lausanne untersucht und operiert. Bislang waren das bereits 6700 Patienten.

Straffer Zeitplan

Jeden Dienstag ist für Ann Schalenbourg Operationstag. So auch diesmal, wo im Operationssaal bereits eine 40-jährige Patientin in Narkose schläft. Dann schlüpft die Ärztin in ihren blauen Operationskittel, streift die sterilen Handschuhe über und beginnt mit der Präzisionsarbeit. Sie macht einen winzigen Schnitt in die Bindehaut des Auges und schiebt die feinen Operationsinstrumente vorsichtig an den Augenmuskeln vorbei hinter das Auge. Dann wird im Operationssaal das Licht gelöscht. In der Dunkelheit leuchtet sie mit einer Lampe von vorn direkt durch das Auge. Das Licht reicht bis zum Augenhintergrund und ist auf der Rückseite des Augapfels gut sichtbar, erklärt die Ärztin. Aber dort, wo ein Tumor ist, kommt kein Licht durch und man sieht nur einen Schatten. Rund um diesen Schatten näht Schalenbourg die 2,5 Millimeter grossen Metallclips wie winzige Knöpfe an und verschliesst anschliessend die Bindehaut wieder.

Mittwoch, ein Tag später. Auf dem Behandlungsstuhl im Zimmer von Ann Schalenbourg sitzt die Patientin vom Vortag. Sie wirkt unsicher, stellt ein paar Fragen auf Italienisch. Sprachliche Vielfalt gehört sowohl an der Lausanner Augenklinik als auch am PSI zum Alltag, denn die Patienten für die Protonentherapie kommen aus allen Teilen der Schweiz und etwa zehn weiteren Ländern. Schalenbourg allein spricht sieben Sprachen und antwortet der Tessinerin in deren Muttersprache. Anfangs konnte ich mich eher über Augentumore auf Italienisch unterhalten als eine Pizza bestellen, erinnert sie sich schmunzelnd. So erklärt sie der jungen Frau, wie die Behandlung weiter geht. Während sie ihre randlose Brille auf den Schreibtisch legt, streift Schalenbourg den Augenspiegel über den Kopf und nimmt ein Vergrösserungsglas in die linke Hand. Dieses hält sie vor das Auge der Patientin und blickt dabei konzentriert durch ihren Augenspiegel. Sie untersucht den Augenhintergrund, überprüft den Tumor und schaut nach den Metallclips. Tutto bene – Alles in Ordnung, sagt sie. Die Operation ist gut gelaufen. Doch der Patientin rinnt eine Träne über die Wange und sie fängt an zu schluchzen. Wie ein Staudamm brechen alle Sorgen auf, die Angst vor dem Krebs, der in ihrem Auge wuchert, vor der Bestrahlung, vor der Zukunft. Wird es wehtun? Wird sie ihr Auge behalten können? Schalenbourg umarmt die junge Frau, bis die Tränen versiegen. Dann erklärt sie ihr ruhig, wie sie die Lage einschätzt. Dass die Protonentherapie am PSI bei über 98 Prozent aller Patienten das Tumorwachstum stoppen kann. Und dass die Nebenwirkungen so gering sind, dass 95 bis 98 Prozent ihr Auge behalten können.

Der Eingang zur Jules-Gonin-Augenklinik in Lausanne. (Foto: Scanderbeg Sauer Photography)

Ich erzähle den Patienten genau, was auf sie zukommt und wie in ihrem konkreten Fall die Chancen stehen, so Schalenbourg. Sie sollen alles wissen. Nur dann können sie richtig mit der Diagnose umgehen und bei der Behandlung mitmachen. Ohne die Mitarbeit der Patienten funktioniert keine Protonentherapie. Und die beginnt schon am nächsten Tag.

Alles bereit am PSI

Jeden Donnerstag müssen die frisch operierten Patienten zu ihrem ersten Termin an das PSI. Für einige ist diese Reise weit. Zudem sind die nächsten Tage mit einem straffen Programm gefüllt, denn der Tumor wartet nicht. Am Donnerstag lernen die Patienten ihre betreuenden Ärzte am Zentrum für Protonentherapie kennen und werden auf die Bestrahlung vorbereitet. Ebenfalls am Donnerstag besprechen Radiologen und Medizinphysiker vom PSI jeden Fall per Videokonferenz mit Schalenbourg. Dann berechnen sie mit einer Spezialsoftware, wie der Tumor bestrahlt wird. Erst am darauffolgenden Montag ist die ganze Vorbereitung beendet und der Patient durchläuft eine simulierte Behandlung am Protonenbestrahlungsplatz OPTIS. Wenn diese funktioniert hat, beginnt am Dienstag die eigentliche Protonenbehandlung. Von da an bekommen die Patienten in der Regel an vier aufeinanderfolgenden Tagen eine Protonenbestrahlung. Dann ist die Behandlung vorbei. Ann Schalenbourg sieht ihre Patienten am darauffolgenden Montag wieder. Und dann erst mehrere Monate später wieder zur Nachkontrolle. Meistens glücklich. Und immer dankbar.

Text: Sabine Goldhahn