«Magisches» Element stellt Modell zur Kernsynthese in Sternen infrage

Wenn es um die Synthese von Elementen schwerer als Eisen in Sternen geht, passen die theoretischen Modelle sehr gut zu den Messungen – mit einer überraschenden Ausnahme: Cer-140. Ein internationales Forschungsteam, an dem auch PSI-Forschende beteiligt sind, hat an der n_TOF Neutronenquelle des CERN Messungen durchgeführt, deren Ergebnisse die gängigen Modelle infrage stellen. 

Emilio Maugeri freut sich über eine aussergewöhnliche Messung, die bisherigen Annahmen entgegensteht. © Paul Scherrer Institut PSI/Mahir Dzambegovic

Es ist nur eine kleine gepunktete Linie in einem Diagramm, aber sie ist von grosser Bedeutung für Physiker. Denn sie steht für ein unerwartetes Ergebnis. «Die gepunktete Linie geht aus unserer Messung hervor», sagt Emilio Andrea Maugeri, Chemiker am PSI-Labor für Radiochemie. Dann bewegt er den Mauszeiger auf eine zweite, durchgezogene Linie in der Grafik: «Und das ist das vorherige theoretische Modell», erklärt er. Weiter oben befindet sich ein roter Punkt, der astronomische Beobachtungen von Sternen darstellt. Die Forscher wollten diese Lücke an der Spitze schliessen. Stattdessen haben sie die Lücke weiter nach unten vergrössert – mit unvorhersehbaren Folgen für die Theorie der Synthese von Atomkernen in Sternen.

Die Details: Die beiden Prozesse, die für die Synthese schwerer Elemente verantwortlich sind, werden als s(slow)- und r(rapid)-Prozesse bezeichnet. Der erste findet in den äusseren Schichten der Sterne statt, wo Neutronen von Atomkernen eingefangen werden, die anschliessend in Protonen und Elektronen sowie Antineutrinos zerfallen. Auf diese Weise entstehen Elemente mit höheren Ordnungszahlen im Periodensystem. Theoretische Modelle sagen den s-Prozess sehr gut voraus, die Häufigkeit dieser Elemente in bestimmten Sternen in unserer Heimatgalaxie, der Milchstrasse, passen zu den Messungen.

Theoretisches Modell mit Schwierigkeiten

Die theoretischen Modelle haben jedoch Schwierigkeiten, die beobachtete Menge an Cer korrekt anzugeben, obwohl es hauptsächlich durch den wohlbekannten s-Prozess entsteht. Cer ist besonders interessant, weil sein Isotop Ce-140 ein «neutronen-magischer» Kern ist. Er hat eine vollständige Neutronenhülle und daher wenig «Lust», weitere Neutronen zu absorbieren, was Physiker als niedrigen effektiven Neutronenquerschnitt bezeichnen. Astrophysiker haben in bestimmten Sternen, in denen Cer-140 durch den s-Prozess erzeugt wird, eine viel grössere Menge dieses Isotops gemessen, als vorhergesagt wurde. Diese Diskrepanz lässt sich nicht durch die derzeit verwendeten theoretischen Modelle erklären. Die sind ansonsten zuverlässig, da sie für alle Elemente in der Nähe von Cer korrekte Vorhersagen machen. 

Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass bei den Berechnungen falsche Eingaben für die Wirkungsquerschnitte verwendet wurden. Wäre der Neutronenquerschnitt von Cer-140 niedriger, würde diese Unstimmigkeit geringer ausfallen. Tatsächlich wurde dieser Wirkungsquerschnitt bisher nur mit geringer Genauigkeit gemessen. Forschende in aller Welt sind daher sehr daran interessiert, diesen Wert neu und genau zu bestimmen.

Genau das hat das n_TOF-Forschungsteam getan. Insgesamt vier Jahre hat es gedauert, bis die Messungen vorbereitet, am CERN durchgeführt und schliesslich ausgewertet waren. Die n_TOF-Neutronenquelle in Genf ist derzeit die weltweit beste für sogenannte Flugzeitmessungen (time of flight) mit Neutronen bei Energien, die die stellare Nukleosynthese reproduzieren, sowie mit der erforderlichen sehr hohen Energieauflösung. Das PSI-Team spielte bei dem Experiment eine wichtige Rolle, indem es ein hochreines Cer-140-Target für den Beschuss mit Neutronen herstellte. Es brauchte viele Monate und Tests, bis das Target die richtigen Eigenschaften aufwies für eine Messung mit bisher unerreichter Präzision.

Ausgezeichnete Arbeit

Wie eingangs erwähnt, ist das Ergebnis nicht das, was die Forscher erwartet hatten. Sie waren davon ausgegangen, dass sie einen niedrigeren Wirkungsquerschnitt für den Einfang eines Neutrons in Cer-140 messen und damit die Lücke zu den gemessenen Werten schliessen würden. Die Linie im Diagramm stieg jedoch nicht an, sondern fiel auf die gestrichelte Linie. Das bedeutet, dass der Wirkungsquerschnitt tatsächlich noch höher ist als bisher angenommen. Das Experiment am CERN ist so präzise, dass es keinen Zweifel daran gibt. Das bestätigen auch die Gutachter der Veröffentlichung in der renommierten Fachzeitschrift Physical Review Letters. Sie zeichneten die Arbeit als «best paper» für aussergewöhnliche Forschung aus.

Was nun? Wenn alle Messungen und das Modell korrekt sind, aber trotzdem nicht übereinstimmen, muss es einen bisher unbekannten Prozess geben, der die Diskrepanz erklärt. Dieser Prozess ist jedoch gar nicht so «geheimnisvoll». Tatsächlich wird seit Langem spekuliert, dass es neben dem s-Prozess und dem r-Prozess noch einen dritten Prozess geben könnte. Physiker nennen ihn den «i-Prozess», von «intermediär».

Emilio Andrea Maugeri ist euphorisch. «Wir haben vielleicht gerade ein neues Forschungsgebiet begründet.» Im nächsten Jahr wollen sich die Experten auf einer eigenen Konferenz zu diesem Thema treffen und über das weitere Vorgehen beraten. Maugeri: «Es könnte sein, dass wir das theoretische Modell der Bildung von Elementen, die schwerer als Eisen sind, in Sternen komplett überarbeiten müssen.» Aber eines sei schon jetzt klar: «Das Schwarz-weiss-Denken von s- und r-Prozessen könnte vorbei sein. In Zukunft werden wir auch in Grautönen denken müssen.» 


Text: Bernd Müller

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Dr. Emilio Andrea Maugeri
PSI Center for Nuclear Engineering and Science
Paul Scherrer Institut PSI

+41 56 310 24 07
emilio-andrea.maugeri@psi.ch

  • Amaducci S, Colonna N, Cosentino L, Cristallo S, Finocchiaro P, Krtička M, et al.
    Measurement of the Ce 140 (n,γ) cross section at n_TOF and its astrophysical implications for the chemical evolution of the universe
    Physical Review Letters. 2024; 132(12): 122701 (8 pp.). https://doi.org/10.1103/PhysRevLett.132.122701
    DORA PSI