Warum verändert sich Materie, wenn sie mit Licht wechselwirkt? Was passiert dabei mit den einzelnen Molekülen? Für den Physiker Dominik Sidler vom Zentrum für Computergestützte Wissenschaften, Theorie und Daten am Paul Scherrer Institut PSI ist Theorie alles andere als grau. Er sucht nach einer grundlegenden neuen Theorie, um zu beschreiben, wie die chemischen Eigenschaften eines Stoffes durch starke Licht-Materie-Wechselwirkung beeinflusst werden kann.
Vier Jahre hat der gebürtige Ebikoner Dominik Sidler am Hamburger Max-Planck-Institut für Struktur und Dynamik der Materie als Postdoc geforscht. Letztes Jahr kehrte er mit seiner Frau und den beiden in Hamburg geborenen Kindern in die Schweiz zurück. Alles fühlt sich zwar immer noch ein bisschen neu an, aber Dominik Sidler ist auch froh, wieder näher bei den Eltern zu sein. «Und ehrlich gesagt: Als begeisterter Berggänger hatte ich im norddeutschen Flachland schon mit Entzugserscheinungen zu kämpfen.»
Was Experimente nicht können
Sidler arbeitet am PSI im Labor für Materialsimulationen – genau der richtige Ort für einen Physiker, der sich darauf spezialisiert hat, mithilfe von Computermodellen Theorien zu entwickeln und so die chemischen Eigenschaften von Stoffen vorherzusagen. «Die Simulationen geben mir Einblicke auf atomarer Ebene – dieser Bereich bleibt bei vielen Experimenten verborgen.» Damit lassen sich dann die Messungen und Beobachtungen aus den Experimenten viel genauer interpretieren.
Warum er selbst nicht in die experimentelle Forschung gegangen ist? Für Sidlers Geschmack gibt es da zu viele, schwer kontrollierbare Stellschrauben: «Theorie und Simulation passen besser zu mir. Sie sind sauberer.» Besonders mag Sidler, dass die physikalischen Mechanismen, denen er mit seinen Theorien und Simulationen auf die Schliche kommt, oft erstaunlich einfach sind. Die Schwierigkeit liegt nur darin, sie zu identifizieren. «Die Suche nach dieser schönen Einfachheit inmitten der Komplexität fasziniert mich.»
Rätselhafte Effekte
Das Einfache mit dem Komplexen zu verbinden, plant Sidler auch im Rahmen seines aktuellen Projekts. Es trägt den Namen «Unravelling the Mysteries of Vibrational Strong Coupling» (UnMySt), was so viel heisst wie «Die Geheimnisse der starken Schwingungskopplung lüften», und wurde vom Europäischen Forschungsrat (ERC) mit zehn Millionen Euro gefördert. Sechs Jahre soll das Projekt laufen – der Start ist im Frühjahr 2025. Doch um welche «Geheimnisse» geht es hier? Um jene der polaritonischen Chemie – ein relativ junges Forschungsgebiet, das trotz seines Namens stark von der theoretischen Physik geprägt ist.
Das Mysteriöse dabei ist, dass sich die chemischen Eigenschaften von Stoffen nur dadurch verändern lassen, indem man sie in einen optischen Resonator gibt. Dabei handelt es sich um eine Art Experimentierkasten mit winzigen Spiegeln, die gegenüberliegend angeordnet sind. In dessen Inneren wird die Wechselwirkung zwischen Materie und Licht verstärkt, was zu einer sogenannten starken Licht-Materie-Kopplung führt. Wie in Experimenten beobachtet wurde, verändert diese Kopplung die Reaktionseigenschaften, das heisst, chemische Reaktionen liefen langsamer oder schneller ab.
Die starke Wechselwirkung zwischen Licht und Materie ist zwar aus der Laserphysik seit Jahrzehnten bekannt, aber wie sie die chemischen Eigenschaften eines Stoffes verändern kann, weiss niemand. Es herauszubekommen ist auch alles andere als einfach, da sich die Stoffe im Resonator nicht als Ganzes verändern, sondern nur vereinzelte Moleküle – eine lokale Veränderung, die trotzdem zu ganz neuen chemischen Eigenschaften führen kann.
Eine neue Theorie muss her!
Die bisherigen Standardtheorien besagen, dass so ein lokaler Effekt gar nicht passieren dürfte, woraus sich folgern lässt, dass diese Theorien unzureichend sind. Dies ist der Traum eines jeden Theoretikers: Hier bietet sich die Gelegenheit, ein neues Erklärungsfundament zu bauen, das die physikalischen Mechanismen hinter dem Phänomen umfassend beschreibt.
Genau daran arbeitet Sidler im Rahmen des Projekts. Er entwickelt verlässliche Theorien, Simulationsmethoden und Vorhersagen für die polaritonische Chemie. Bislang gab es bei den Experimenten nur Zufallstreffer. Es wurden ganz viele experimentelle Set-ups durchprobiert – mal stellte sich ein chemischer Effekt ein, meistens jedoch nicht. Das wird anders, sobald die passende Theorie gefunden ist. Diese schafft dann Leitprinzipien für künftige Experimente, bei denen sich der gewünschte chemische Effekt gezielt herbeiführen lässt.
Das könnte wiederum den Weg für konkrete Anwendungen ebnen, wie beispielsweise in der Medizin. Hier könnte die polaritonische Chemie irgendwann dazu beitragen, bei der Synthese von Medikamenten rechts- und linkshändige Moleküle einfacher aufzutrennen. Rechts- und linkshändig bedeutet, dass Moleküle zwar identisch sind, sich aber in ihrer Anordnung unterscheiden. Das eine Molekül entspricht dem Spiegelbild des anderen. Das Problem: Während ein Molekül heilend wirkt, ist sein Spiegelbild möglicherweise hochgradig schädlich. Eine effiziente Trennung ist somit unerlässlich, sodass unerwünschte Nebenwirkungen ausbleiben.
Interdisziplinär geht es besser
Die Industrie hat bereits Interesse bekundet, Sidlers Arbeit ist also trotz aller «grauen» Theorie relevant für die Praxis. Und sie ist absolut interdisziplinär ausgerichtet, wie sich beim ERC-Projekt zeigt. Da fliessen spezielle Kenntnisse, Herangehens- und Denkweisen aus ganz unterschiedlichen Bereichen zusammen: die der theoretischen Chemie in Pennsylvania, die der experimentellen Chemie in Strasbourg, die der experimentellen Physik in Tel Aviv und die der theoretischen Physik in Hamburg sowie am PSI.
Sidler startet ins Projekt mit der zentralen Frage, warum sich nur bei bestimmten Experimenten die chemischen Eigenschaften der Stoffe verändern, oft aber gar nichts passiert. Seine dafür aufgestellten Gleichungen wird dann ein Kollege in Hamburg mathematisch zu verifizieren versuchen. Danach werden diese auf Grossrechnern gelöst. Schlussendlich sind die experimentellen Kolleginnen und Kollegen an der Reihe: Sie müssen die Hypothese im Versuch erhärten. Ihre Resultate bilden wiederum die Grundlage für neue theoretische Modelle. «Nur gemeinsam kommen wir ans Ziel. Die vergangenen zehn Jahre Forschung im Bereich der polaritonischen Chemie haben gezeigt, dass isolierte Betrachtungen keine Fortschritte bringen. Beides, Theorie und Experiment, müssen sich ergänzen», so Sidler.
Rückzugsraum zum Brüten
Sidler fühlt sich gut gerüstet für die knifflige Aufgabe – schliesslich war er lange Stabsoffizier bei der Schweizer Armee. Dort wurden Ausdauer und Durchhaltevermögen trainiert. «Beides ist auch in der Forschung unerlässlich, da die ersten Versuche oft fehlschlagen. Die Kunst liegt darin, hartnäckig dranzubleiben – und rechtzeitig zu erkennen, dass ein Ansatz hoffnungslos ist.» In seiner Militärzeit lernte Sidler auch, Verantwortung für andere zu übernehmen. Im Umgang mit Menschen komme man mit Logik nicht immer weiter. Man brauche Einfühlungsvermögen, Überzeugungskraft, muss motivieren können und Vorbild sein. Erkenntnisse, die sich gut auf die Forschung übertragen lassen. Sidler weiss, wie er auf Studenten und Postdocs zugehen muss – deren Betreuung gehört auch zu seinen Aufgaben am PSI.
Am PSI fühlt sich Sidler gut angekommen, es fehlt ihm an nichts. Im Rahmen des Projekts können auch die Grossforschungsanlagen für Experimente herangezogen werden. Was ein Theoretiker aber vor allem brauche, sei ein Rückzugsraum. Tür zu machen und dann in Ruhe programmieren oder über einer Idee brüten. Nichtsdestotrotz wären für ihn noch Gemeinschaftsbereiche mit Wandtafel und Kaffee in Büronähe optimal. An solchen Treffpunkten kämen «spontane Begegnungen und Diskussionen» in Gang – die oftmals helfen, Lösungen zu finden für die Probleme, an denen man gerade knabbert. Manchmal entstehen bei diesem Austausch auch neue Forschungsideen, über die es sich dann im stillen Kämmerlein wieder vortrefflich nachdenken liesse.
Kontakt
Dr. Dominik Sidler
Center for Scientific Computing, Theory and Data
Paul Scherrer Institut PSI