PSI-Forscher untersuchen Wege zu einem nachhaltigen Schweizer Stromsystem

Mit der Energiestrategie 2050 des Bundes steht die Schweiz vor einem möglicherweise radikalen Umbau ihres Energiesystems. Besonders die Versorgung mit Strom stellt angesichts der ungewissen Entwicklung der Stromnachfrage, der nationalen Klimaziele und des vom Bundesrat beschlossenen Ausstiegs aus der Kernenergie eine Herausforderung dar. Um herauszufinden, welche Optionen sich für diesen Wandel am besten eignen, haben Forscher des Paul Scherrer Instituts PSI verschiedene Szenarien für die Zukunft des Stromsektors in der Schweiz untersucht. Die Szenarien werden mit einem am PSI konzipierten Analysetool entwickelt und analysiert – einem Modell, das gleichzeitig langfristige Entwicklungen (bis 2050 und darüber hinaus) sowie saisonale und tageszeitliche Schwankungen in Stromangebot und -nachfrage berücksichtigt.

Stefan Hirschberg, Leiter des Labors für Energiesystemanalyse und Kannan Ramachandran, Miautor des STEM-E Modells.Bild: Frank Reiser/ Paul Scherrer Institut
Ungewisse Zukunft der Stromnachfrage in der Schweiz: Die Prognosen verschiedener Studien weichen stark voneinander ab. Grafik: Paul Scherrer Institut
Zeitliche Gliederung des STEM-E Modells. Im Modell wird zwischen den vier Jahreszeiten sowie zwischen Wochentagen, Samstagen und Sonntagen unterschieden. Angebot und Nachfrage werden stündlich balanciert.Grafik: Paul Scherrer Institut

Das Analysetool, STEM-E genannt, ist so konzipiert, dass es die Besonderheiten des schweizerischen Energiesystems beachten kann. Stromproduktion und -nachfrage in der Schweiz variieren sehr stark mit den Jahreszeiten. So ist etwa die Nachfrage im Winter hoch, während die Produktion aus Wasserkraftwerken tief ausfällt. Umgekehrt nimmt die Nachfrage im Sommer ab, gerade dann, wenn die Wasserkraft am meisten Strom generiert. Derzeit spielt deshalb der Stromhandel im europäischen Raum eine zentrale Rolle für die Versorgungssicherheit der Schweiz: Stromimporte sind also notwendig im Winter; im Sommer werden hingegen Stromüberschüsse exportiert. Gemäss historischen Daten halten sich Ein- und Ausfuhren vom Strom über das Jahr die Waage.

Und noch eine Besonderheit: Die Schweiz ist mit einer grossen Speicherkapazität in Pumpspeicherkraftwerken gesegnet. Diese spielen nicht nur beim Stromhandel eine zentrale Rolle. Auch bei der künftigen Integration der neuen erneuerbaren Energien (solar, Wind) kommt ihnen eine grosse Bedeutung zu, denn Solar- und Windstrom können nicht nach Bedarf ein- und ausgeschaltet werden. Vielmehr können sie je nach Wetterlage zeitweise zu einem Überangebot führen. Sie müssen dann gespeichert werden, indem man Wasser von einem tieferen auf ein höheres Reservoir pumpt. Bei hoher Nachfrage kann umgekehrt der so gespeicherte Strom wieder ins Netz gespeist werden. So können Angebot und Nachfrage stündlich ausgeglichen werden. Diese Eigenheiten des Schweizer Stromsystems sind im Modell der PSI-Forscher entsprechend eingebaut.

Ungewissheiten zu Stromangebot und -nachfrage

Der Schweizer Stromsektor muss bereits heute Unsicherheiten bezüglich Angebot und Nachfrage gerecht werden. Dazu zählen auf der Nachfrageseite die individuellen Verbrauchsentscheide von Haushalten, Gewerbe und Industrie. In der jüngsten Vergangenheit hat zwar die Nachfrage nach Strom in der Schweiz zugenommen, unverändert aber blieb das tageszeitliche Nachfrageprofil. Das heisst, der Verlauf der Stromnachfrage mit seinen Höhe- und Tiefpunkten zu bestimmten Tagesstunden ist in den letzten Jahren gleich geblieben. Allerdings könnten Entwicklungen wie ein signifikanter Ausbau der Elektromobilität, ein Anstieg des Verbrauchs für Klimaanlagen oder ein Wechsel von fossiler zu strombetriebener Heizung zu deutlich veränderten Tagesverbrauchsprofilen führen.

Aber nicht nur bei der Nachfrage, auch aufseiten der Strombereitstellung ist mit Ungewissheiten zu rechnen. Schon heute sind klimatische Variationen wie etwa das jährliche Niederschlagsvolumen mitbestimmend für die Strommenge, die schweizerische Wasserkraftwerke generieren. Durch den geplanten Ausbau von Photovoltaik und Windkraft werden die tageszeitlichen und saisonalen Schwankungen in der Stromproduktion in Zukunft weiter zunehmen. Das Modell STEM-E ist in der Lage, diese mittel- und langfristigen Variationen zu analysieren. Es verwendet dazu einen mathematischen Algorithmus, der Verbrauch und entsprechende Versorgung von heute bis zur zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts balanciert. Dabei werden mit einer Auflösung von einer Stunde Schwankungen von Nachfrage und Angebot zwischen den vier Jahreszeiten sowie zwischen Wochentagen, Samstagen und Sonntagen abgebildet.

Neben den oben genannten Quellen von Unsicherheit können weitere wichtige (und ebenfalls ungewisse) Faktoren die Zukunft des Schweizer Stromsektors beeinflussen. Dazu zählen das globale Wirtschaftswachstum, die Sensitivität des Klimasystems auf Veränderungen der CO2-Konzentration in der Atmosphäre oder die energiepolitischen Entscheide in anderen Ländern. Von diesen Einflussgrössen hängen beispielsweise Verfügbarkeit und Preis von importiertem Strom ab sowie der Zugang zu importierten Brennstoffen wie Erdgas, die in Zukunft einen wesentlichen Beitrag zur Stromerzeugung leisten könnten.

Die Zukunft des Schweizer Stromsektors und damit die Umsetzung der Energiestrategie 2050 des Bundes sind also mit grossen Ungewissheiten behaftet. Denn weder die Entwicklung der Stromnachfrage noch mögliche technologische Fortschritte, die Wirksamkeit von Effizienzmassnahmen oder politische Entscheide können mit absoluter Präzision vorhergesagt werden.

Robust gegen Ungewissheiten

Das Analysetool der PSI-Forscher wird dazu verwendet, um Erkenntnisse zu generieren, die die Entscheidungsfindung angesichts dieser Ungewissheiten unterstützen. Mithilfe des Tools können beispielsweise Empfehlungen zur Wirtschaftlichkeit einzelner Technologien in der Schweiz abgegeben werden. Das Modell geht diese Unsicherheiten systematisch an, indem es einen „Was-Wäre-Wenn-Ansatz“ verwendet. Das heisst, die Folgen verschiedener technologischer, politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen werden analysiert und der Einfluss von Ungewissheiten quantifiziert. Daraus werden robuste Optionen abgeleitet, so können zum Beispiel Technologien identifiziert werden, die trotz Ungewissheiten attraktiv bleiben. Die Forscher nennen das eine Szenarioanalyse. Eine solche Analyse kann sich mal auf die Auswirkungen der Schwankungen des Erdgaspreises, mal auf die künftigen Kosten einer bestimmten Technologie konzentrieren.

Mithilfe ihres Modells und unter Annahme diverser Szenarien haben die PSI-Wissenschaftler die kostengünstigsten Strategien errechnet, mit denen die Schweiz über die nächsten hundert Jahre einen klimafreundlichen oder importunabhängigen Stromversorgungsmix erreichen kann (1,2,3). Im Modell werden die Gesamtkosten konkurrierender Technologien miteinander verglichen und daraus der kostenoptimale Mix bestimmt. Die Kostenrechung umfasst alle Aspekte einer Technologie, von den Kapitalinvestitionen für die Kraftwerke und sonstige Infrastruktur über die Beschaffungskosten für Brennstoffe bis hin zu Stillegung der Werke und Entsorgung der Abfälle.

Einmaliges, öffentlich zugängliches Analysetool

Modelle zur Vorhersage von Stromnachfrage bzw. Stromerzeugung gibt es schon lange. So verwenden zum Beispiel die Stromversorger Modelle, welche die Stromnachfrage in ihrem Versorgungsgebiet mit sehr hoher Zeitauflösung, das heisst minutengenau, abschätzen. Solche Modelle haben jedoch einen Zeithorizont von nur wenigen Tagen bis höchsten ein oder zwei Jahren, denn sie dienen den Stromunternehmen dazu, den täglichen Betrieb ihrer Kraftwerke zu optimieren, nicht aber zur langfristigen Planung von Ressourcen oder Investitionen. Andere zu Forschungszwecken geschaffene Modelle wiederum besitzen einen sehr langen Zeithorizont (mehrere Jahrzehnte oder ein ganzes Jahrhundert), aber es fehlt ihnen an einer feinen Zeitauflösung, um etwa tageszeitliche oder gar stündliche Schwankungen adäquat zu berücksichtigen. „Kein bisheriges öffentlich zugängliches Analysetool bietet die Kombination von langfristiger Vorausschau und fein gegliederter Zeitauflösung des STEM-E Modells“, sagt Stefan Hirschberg, Leiter des Labors für Energiesystemanalyse am PSI.

Das vom PSI verwendete Modell basiert auf einem international etablierten Open-Source-Code, der von der Internationalen Energieagentur entwickelt worden ist. Die PSI-Forscher planen bereits eine Erweiterung ihres Modells, um das gesamte Energiesystem der Schweiz statt nur den Stromsektor zu untersuchen. In einer solchen ganzheitlichen Betrachtung werden auch einige der Ungewissheiten des gesamten Schweizer Energiesystems, etwa ein möglicher Ausbau der Elektromobilität oder von elektrisch betriebenen Heizungen, mit einbezogen werden.

In einem nachfolgenden Beitrag werden die Resultate von Berechnungen mit dem STEM-E Modell zur Zukunft des schweizerischen Stromsektors präsentiert. Diese Resultate wurden in der jüngsten Ausgabe des Energiespiegels vom PSI veröffentlicht.

Notiz: Ein technischer Bericht mit der Beschreibung des STEM-E Modells ist unter folgendem Link zu finden: http://gabe.web.psi.ch/pdfs/ES21_Stem-E_Documentation_Final_R2.pdf

Weiterführende Informationen
  1. Cost of ad-hoc nuclear policy uncertainties in the evolution of the Swiss electricity system, Kannan Ramachandran and Hal Turton, Energy Policy, Volume 50, November 2012, DOI: 10.1016/j.enpol.2012.07.035
  2. http://gabe.web.psi.ch/pdfs/Energiespiegel_21_d.pdf
  3. http://gabe.web.psi.ch/pdfs/ES21_Supplementary%20-%20Energie%20Spiegel%20Nr%2021.pdf