Rekonstruktion des Nuklearunfalls von Fukushima

Forscher des Paul Scherrer Instituts PSI beteiligen sich zurzeit an einem internationalen Projekt mit dem Ziel, die Vorgänge zu rekonstruieren, die sich beim Nuklearunfall vom März 2011 im Inneren der Reaktoren des japanischen Kernkraftwerks Fukushima Daiichi ereigneten. Insbesondere die Rekonstruktion des Endzustandes der Reaktorkerne soll dem Betreiber des havarierten Werkes, der Tokyo Electricity Company TEPCO dabei helfen, die Dekontaminierungsarbeiten in der Reaktorschutzhülle vorzubereiten. Zudem soll die Übung auch zur weiteren Verfeinerung der Computerprogramme beitragen, mit deren Hilfe Nuklearunfälle simuliert werden.

Die Wissenschaftler (v.l.n.r) Terttaliisa Lind(Gruppenleiterin), Leticia Fernandez Moguel und Jonathan Birchley leisten den PSI-Beitrag zur Rekonstruktion des Nuklearunfalls von Fukushima. Foto: Markus Fischer/ Paul Scherrer Institut.
Schematische Darstellung eines Nuklearunfalls in einem Siedewasserreaktor wie jener von Fukushima. In diesem Fall schränken die Kühlsysteme den Schaden am Reaktorkern ein und das geschmolzene Material verbleibt im Reaktordruckbehälter(1). Die Reaktorschutzhülle(2) bleibt indessen intakt. Die überhitzten Metallkomponenten im Reaktor werden im Wasserdampf oxidiert und erzeugen grosse Mengen an Wasserstoff. Wenn der Wasserstoff in Berührung mit Umgebungsluft kommt, bildet sich eine explosive Mischung(3).Bild: Paul Scherrer Institut.
Schematische Darstellung eines Nuklearunfalls in einem Siedewasserreaktor wie jener von Fukushima. In diesem Fall können die Kühlsysteme den Schaden am Reaktorkern nicht eindämmen und das geschmolzene Material dringt durch den Reaktordruckbehälter(1) auf den Boden der Reaktorschutzhülle(2). Dort führt die Schmelze zur Korrosion des Betonbodens. Dadurch werden zusätzlicher Wasserstoff und andere Gase freigesetzt. Wenn der Wasserstoff in Berührung mit Umgebungsluft kommt, bildet sich eine explosive Mischung(3).Bild: Paul Scherrer Institut.
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Im März 2011 lösten ein äusserst starkes Erdebeben und ein darauf folgender Tsunami an der Ostküste der japanischen Insel Honshu eine der grössten Katastrophen in der Geschichte der friedlichen Nutzung der Kernenergie aus. Der Kernkraftwerk-Komplex Fukushima Daiichi erlitt dabei in mehreren seiner Reaktoren und Reaktorgebäuden erhebliche Schäden. Es wird angenommen, dass es in allen drei Reaktorkernen zu einer zumindest teilweisen Schmelze kam. Infolge des Unfalls und der Freisetzung von Radioaktivität musste das umliegende Gebiet grossräumig evakuiert und dessen Bewohner zum grossen Teil umgesiedelt werden. Auf den Unfall folgten bald politische Konsequenzen, nicht nur in Japan. Die Regierungen mehrerer Länder, darunter auch der Schweiz, beschlossen ihre Kernenergiepolitik zu überdenken.

Dekontaminierung steht noch an

Obwohl die zerstörten Kernkraftwerke einige Wochen nach dem Unfall stabilisiert worden waren, stand die Belegschaft des Betreibers TEPCO vor der riesigen Herausforderung, die Anlage zu dekontaminieren. Diese Herausforderung ist bis heute noch nicht gemeistert. Eine der grössten Schwierigkeiten betrifft die Frage, was die TEPCO-Ingenieure genau vorfinden werden, wenn sie die Reaktorschutzhülle (Containment) betreten. Je nach tatsächlichem Zustand der Reaktoren werden spezielle Maschinen bzw. besondere Sicherheitsmassnahmen zum Schutz des Personals notwendig sein. Der Betreiber TEPCO ist hier deshalb auf die bestmöglichen Hinweise über den aktuellen Zustand des Reaktors angewiesen, bevor die Dekontaminierungsarbeiten beginnen können. Unklar ist noch, wie viel von den beschädigten Reaktorkernen geschmolzen ist und ob das geschmolzene Material, Corium genannt, in dem aus Stahl bestehenden Reaktordruckgefäss zurückgehalten werden konnte. Auch möglich ist das befürchtete Szenario, dass das Corium sich durch den Stahl gefressen und den Betonboden der Reaktorschutzhülle erreicht hat, was zusätzlichen Schaden durch Korrosion des Betons bedeuten könnte. Diese beiden Szenarien sind in Abbildungen 1 und 2 schematisch dargestellt.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD startete im November 2012 ein internationales Projekt mit dem Ziel, die spezifische Ereigniskette eines schweren Nuklearunfalls, wie jener von Fukushima, besser zu verstehen. Fachleute von Instituten aus mehreren Ländern (Frankreich, Deutschland, Japan, Korea, Russland, Spanien, der Schweiz und den USA) arbeiten seitdem daran, darunter auch Forscher vom PSI. Bei dem Projekt namens BSAF (Benchmark Study of the Accident at the Fukushima Daiichi Nuclear Power Station) geht es im Wesentlichen darum, mit Hilfe der besten heute verfügbaren Computerprogramme, die Abfolge der Ereignisse im havarierten Werk nachzuberechnen. Auf der Basis dieser Berechnungen wollen die Wissenschaftler den Endzustand der betroffennen Reaktorkerne nach den Notfallmassnahmen der ersten sechs Tage abschätzen.

Das PSI simuliert die Ereignisse im Reaktorblock Nummer 3

Die Projektteilnehmer führen ihre Simulationen getrennt und unabhängig voneinander durch. Erst gegen Projektende sollen die Ergebnisse der einzelnen Teams miteinander verglichen werden. Diese Arbeitsweise zielt darauf ab, Übereinstimmungen auszumachen, und so die wissenschaftliche Solidität und die Glaubwürdigkeit der Ergebnisse zu stärken.

Das PSI ist mit der Simulation der Vorgänge im Reaktorblock Nummer 3 betraut. Dabei verwenden die PSI-Forscher den Simulationscode MELCOR, ein in den USA entwickeltes Programm, das dem PSI im Rahmen eines Austauschabkommens von der US-amerikanischen Behörde für Nuklearsicherheit (US Nuclear regulatory commission) zur Verfügung gestellt worden ist. Bei der Durchführung dieser Aufgabe erhält das PSI wiederum Unterstützung von der enstprechenden Schweizer Behörde, dem Eidgenössichen Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI. Andere Projektteilnehmer verwenden zum Teil andere Computerprogramme für ihre Simulationen.

Druckverlauf im Reaktordruckgefäss als hilfreiche Spur

Die Aufgabe der Simulation des Unfallablaufes ist für alle Teilnehmer schwierig, da viele Komponenten einschliesslich Messvorrichtungen nicht richtig funktionierten und dadurch unvollständige oder sogar widersprüchliche Daten lieferten. Nur wenig ist bekannt über die zeitliche Abfolge der Ereignisse innerhalb des Reaktors. Glücklicherweise gibt es relativ lückenlose Daten über den Druckverlauf im Reaktor, wodurch man Rückschlüsse ziehen kann über den Unfallhergang.

Im Reaktorgebäude fanden bekanntlich Explosionen statt. Diese sind ein Beleg dafür, dass stark überhitzte metallische Komponenten im Reaktor mit Wasserdampf reagierten und dabei Wasserstoff in grossen Mengen freigesetzt wurde. Der Wasserstoff bildete dann mit der Luft in einigen Bereichen des Reaktorgebäudes eine explosive Mischung. Man weiss zudem, dass über mehrere Tage Meerwasser ins Reaktorsystem gepumpt wurde. Es ist aber unklar, wieviel Wasser tatsächlich den Reaktor erreichte. Weitere Ungewissheit rührt von der Tatsache her, dass, als der Druck zu stark anstieg, ein Ventil in der Reaktorschutzhülle absichtlich geöffnet wurde, um Wasserdampf entweichen zu lassen um ein katastrophales Versagen dieser Schutzhülle abzuwenden. Wie viel und wie schnell der Dampf bei diesem sogenannten Venting entwich, ist jedoch ebenfalls unbekannt.

Erste Hinweise, aber noch keine abschliessenden Aussagen

Während der letzten Monate haben die PSI-Forscher mit ihren Simulationen auf eine möglichst glaubhafte Rekonstruktion der realen Ereignissabfolge hingearbeitet. Dazu haben sie ihre Annahmen zu Wasserpumprate und Venting schrittweise verfeinert, um sie an die Messdaten über den Druck im Reaktor anzupassen. Es ist noch zu früh für belastbare Schlussfolgerungen über das Ausmass der Kernschmelze und darüber, wo sich das geschmolzene Material aktuell befindet. Die PSI-Forscher haben aber Hinweise dafür gefunden, dass möglicherweise zu wenig Wasser zu spät in den Reaktor gepumpt wurde, als dass grössere Schäden am Reaktorkern und somit eine Kernschmelze hätten verhindern werden können. Die eingepumpte Wassermenge könnte jedoch gerade ausgereicht haben, um das Durchdringen von Corium durch das Reaktordruckgefäss auf den Boden der Reaktorschutzhülle zu verhindern.

Abschliessende Aussagen werden erst kurz vor dem Projektabschluss im April 2014 vorliegen. Erst dann werden die Projektteilnehmer zusammenkommen, um ihre unabhängigen Ergebnisse zu diskutieren. Aus den Übereinstimmungen in diesen Ergebnissen werden die definitiven Schlussfolgerungen erarbeitet sowie Ratschläge bzw. Empfehlungen an TEPCO weitergegeben werden. Dies soll TEPCO helfen, die Dekontaminierungsarbeiten in der Reaktorschutzhülle besser vorzubereiten.

Text: Leonid Leiva

Kontakt / Ansprechpartner
Dr. Terttaliisa Lind, Leiterin der Forschungsgruppe Schwere Nuklearunfälle, Paul Scherrer Institut,
Telefon: +41 56 310 26 50, E-Mail: terttaliisa.lind@psi.ch