Suche nach dem Higgs-Teilchen: PSI inside

Das Higgs-Teilchen ist entdeckt – so stand es Anfang Juli 2012 in allen Medien. Die Öffentlichkeit hatte ihre Sensation und die Teilchen einen Grund für ihre Masse. Roland Horisberger findet die Verkündigung voreilig: Man wird bestimmt noch fünf Jahre brauchen, bevor man das mit Sicherheit sagen kann, betont der PSI-Teilchenphysiker. Was sicher ist: Wir haben zum ersten Mal beobachtet, dass die Natur ein zusätzliches fundamentales Materieteilchen hat.

Es gibt eine lange Checkliste mit Eigenschaften, die das Higgs-Teilchen laut Theorie haben muss. Jede einzelne muss man in Zukunft aufwändig im Experiment überprüfen. Wie die Suche auch ausgeht – ob man das originale Higgs-Teilchen entdeckt hat, oder ob es ein Higgs-ähnliches Teilchen war, wie es von einigen Theorien beschrieben wird – über die Ergebnisse wird man auf jeden Fall gross PSI inside schreiben können.

Bahnen von Teilchen, die bei Protonenkollisionen am CERN entstanden sind. Die Bahnen können so genau bestimmt werden, dass man sie zu ihren Entstehungspunkten zurückführen kann. So kann man unmittelbar bestimmen, welche Teilchen aus derselben Protonenkollision stammen. Ohne die Pixeldetektoren wäre die dafür nötige Genauigkeit völlig unerreichbar gewesen. Das für die Rekonstruktion benötigte Computerprogramm stammt von Wolfram Erdmann (PSI). Die Breite des Bildes entspricht 2 cm.

Denn PSI-Forscher haben den sogenannten Pixel-Detektor entwickelt und gebaut, mit dem man elektronisch sehen kann, wann und wo ein Teilchen vorbeigeflogen ist. Die damit gewonnenen Messdaten sind absolut wesentlich für die Berechnungen, die die Entscheidung Higgs oder nicht Higgs liefern.

PSI entwickelte CMS-Herzstück

Der Pixel-Detektor ist der innerste Teil des CMS-Experiments am CERN, das aus verschiedenen ineinander verschachtelten Teil-Detektoren besteht – ähnlich einer Matrjoschka, einer Puppe in der Puppe. Aufgebaut ist der Pixel-Detektor aus einer riesigen Zahl winziger Mikro-Chips, die am PSI entwickelt wurden. Während die äussersten Teile des CMS-Experiments einen Durchmesser von rund 16 m haben, hat der Pixel-Detektor gerade mal einen Radius von etwa 16 cm. In seinem Innern befindet sich nur noch das Vakuum-Strahlrohr des LHC-Beschleunigers.

Darin prallen zwei winzige Wolken von Protonen, die sich mit beinahe Lichtgeschwindigkeit bewegen, frontal aufeinander. In diesen heftigen Kollisionen entstehen zahllose neue Teilchen, die in alle Richtungen auseinanderfliegen. Darunter, so die Hoffnung, vielleicht auch immer wieder ein Higgs-Teilchen. Direkt wird man dieses aber nie sehen – es lebt viel zu kurz, als dass es bis zum Detektor vordringen könnte. Unvorstellbar kurze Zeit nach seiner Entstehung zerfällt es in andere Teilchen.

Wozu Higgs?

Unsere Welt ist aus winzigen Bausteinen – den Elementarteilchen – aufgebaut. Ziel der Teilchenphysiker ist zu bestimmen, welche Teilchen es gibt und wie sie so miteinander zusammenwirken, dass unsere Welt aus ihnen aufgebaut sein kann. Viele mögliche Teilchen sind eigentlich nicht Bestandteil unserer Welt, weil sie nach sehr kurzer Lebenszeit in andere Teilchen zerfallen. Man kann sie aber in Experimenten erzeugen und untersuchen. Für ein vollständiges Verständnis der Mikrowelt muss man oft gerade diese Teilchen untersuchen.

Seit den Sechzigerjahren haben theoretische Physiker das Standardmodell der Teilchenphysik entwickelt. Das ist, sehr vereinfacht, ein Verfahren, mit dem man berechnen kann, welche Teilchen es gibt und welche Eigenschaften sie haben. Ein zentraler Aspekt des Standardmodells ist der sogenannte Higgs-Mechanismus, den der britische Physiker Peter Higgs 1964 vorgeschlagen hat. Wenn man die Eigenschaften der Teilchen aus dem Standardmodell ohne den Higgs-Mechanismus berechnet, bekommt man als Resultat, dass die Teilchen keine Masse haben, was offenbar nicht stimmt. Er ist also nötig, damit man die richtigen Werte für die Teilchenmassen bekommt. Gleichzeitig führt er aber dazu, dass es noch ein weiteres Teilchen geben, muss: eben das gesuchte Higgs-Teilchen.

Alle anderen Teilchen, die das Standardmodell voraussagt, sind zuverlässig beobachtet worden. Die Entdeckung des Higgs-Teilchens wäre aber wohl nicht das Ende der Teilchenphysik. Denn offenbar beobachten die Astronomen im Weltraum ganz viel dunkle Materie, die nicht aus den Teilchen des Standardmodells zu bestehen scheint.
Roland Horisberger mit der Halterung für den Pixeldetektor in Originalgrösse – so wie er im Innerern des CMS-Detektors am CERN eingebaut ist. (Bild: Scanderbeg Sauer Photography)

Die Nadel im Heuhaufen

Diese kann man dann zwar im Detektor beobachten. Wie die Nadel im Heuhafen muss man sie aber unter den Flugbahnen Tausender von Teilchen finden, die in den Kollisionen entstehen. Das ist möglich dank der extremen Präzision des Pixel-Detektors und einer grösseren Anzahl von Computerprogrammen, die auch am PSI entwickelt und geschrieben wurden. Sie erlauben, den Detektor zu kalibrieren und seine genaue Position auf Tausendstel Millimeter genau zu bestimmen. Weitere PSI-Programme bestimmen die genauen Orte der Proton-Proton-Kollisionen – Voraussetzung dafür, dass man die Teilchenbahnen zu ihrem Ursprung zurückverfolgen und so sehen kann, welche Bahnen aus demselben Punkt stammen. Die Qualität der Pixel-Daten bei der Spuren-Rekonstruktion ist heute so unglaublich gut, wie es sich früher Forscher mit älteren Detektortechnologien nie hätten träumen lassen, erzählt Horisberger.

Die anderen Teil-Detektoren der Matrjoschka liefern weitere Informationen über die beobachteten Teilchen, sodass man am Ende nicht nur weiss, auf welchem Weg die Teilchen geflogen sind, sondern auch wie schnell sie waren und von welcher Art. Mit diesen Informationen kann man die Eigenschaften des ursprünglichen Teilchens bestimmen – zum Beispiel, wie schwer es war, und vor allem, ob es tatsächlich ein Higgs sein konnte.

Zerfälle beobachten

Dazu muss man sich ansehen, wie das Teilchen zerfallen ist. Ein Higgs-Teilchen kann nämlich auf verschiedene Weisen zerfallen – mal entstehen dabei die einen Teilchen und mal andere. Das geschieht aber nicht völlig beliebig. Man kann berechnen, wie oft ein Higgs-Teilchen auf welche Weise zerfällt. Dieser Aufgabe hat sich Michael Spira aus der Theoriegruppe am Labor für Teilchenphysik des PSI angenommen und hat in äusserst komplizierten Rechungen genau bestimmt, wie oft Higgs-Teilchen nach der gängigen Theorie auf welche Weise zerfallen. Jetzt brauchen die Experimentatoren im Prinzip nur noch die verschiedenen Zerfälle zu beobachten.

Das Ergebnis können sie dann mit Spiras Berechnungen vergleichen. In der Praxis ist das aber nicht so einfach – die verschiedenen Zerfallsarten sind verschieden schwierig zu beobachten. Mit den für die Higgs-Entdeckung bis Sommer 2012 gesammelten Daten hat man den Higgs-Zerfall in vier Myonen nur 5- oder 6-mal gesehen, eine weitere Zerfallskombination in zwei Photonen (Lichtteilchen) vielleicht etwa 150-mal.

Nach einem Unterbruch 2013/14 wird der LHC-Beschleuniger wahrscheinlich bis Ende 2016 zirka zehnmal mehr Higgs-Daten gemessen haben. Dann wird sich auch zeigen, ob im Experiment tatsächlich mehr Higgs-Teilchen erzeugt werden als in Spiras Rechnungen vorausgesagt und ob man für dieses unerwartete Phänomen nach einer Erklärung suchen muss. Es bleibt auf jeden Fall spannend. Auch für die PSI-Forscher. Sie fiebern mit der ganzen Teilchenphysikgemeinde mit, verbessern aber auch stets die Pixel-Software, die die Pixel-Detektor-Daten auswertet, und denken auch schon über einen erweiterten Pixel-Nachfolge-Detektor nach. Ein von der PSI-Gruppe initiiertes Projekt ist der Einbau eines erweiterten Pixel-Detektors im CMS-Experiment im Februar 2017.

Abseits der öffentlichen Higgs-Aufmerksamkeit konzentriert sich innerhalb der PSI-Pixel-Gruppe ein kleines Team um Urs Langenegger auf eine andere Untersuchung, die mit den gesammelten CMS-Daten eventuell eine Antwort auf die Frage geben kann, ob denn neue Physikgesetze jenseits der bisherigen Higgs-Theorie existieren. Im Daten-Heuhaufen des CMS-Experiments versteckt sich eben nicht nur eine Nadel. Es versteht sich von selbst, dass auch hier die Messpunkte des Pixel-Detektors matchentscheidend sind, freut sich Horisberger.

Text: Paul Piwnicki