Vom goldenen Kaiser zum gefüllten Buddha

Mit den Neutronenstrahlen des Paul Scherrer Instituts PSI lassen sich Metallobjekte durchleuchten. Das hilft Archäologen nicht nur, zu sehen, was in deren Hohlräumen verborgen ist. Mit Unterstützung der Wissenschaftler am PSI können sie dadurch auch Erkenntnisse gewinnen, wie solche antiken Artefakte hergestellt wurden – und wie sie sich für die Nachwelt erhalten lassen.

Eine hohle Büste aus reinem Gold, entdeckt in einer römischen Abwasserleitung. Schon 1939, als Grabungshelfer in Avenches im Kanton Waadt das filigran gearbeitete Abbild des Kaisers Marcus Aurelius freilegten, war es eine Sensation. Seither hat das unschätzbare Objekt Archäologen und Kunsthistorikern als wichtige Quelle zur Erforschung der römischen Geschichte der Schweiz gedient. Doch die Wissenschaft blieb dort nicht stehen: 2006 kam die Büste vom Römermuseum in Avenches ans Paul Scherrer Institut. Hier sollte der goldene Kaiser sein letztes Geheimnis preisgeben: Wie konnten damalige Kunsthandwerker ein hohles Bild von Kopf, Hals und Schultern Marc Aurels erschaffen, bei dem keine Nahtstellen von aneinandergefügten Goldplatten zu sehen waren? Eberhard Lehmann vom PSI hatte die Technologie, die Klärung bringen sollte: Bildgebung mit Neutronen, die das Metall quasi durchleuchten. Lehmann wusste allerdings: Wir können hier nur Daten produzieren. Die Interpretationen dazu müssen die Archäologen liefern.

Büste des Kaisers Marc Aurel, um 180 n. Chr.

Bildgebung mittels Neutronen (siehe rechts) ermöglicht es, die Wandstärke der knapp lebensgrossen, hohlen Büste zu vermessen. Blau steht für 1,5 Millimeter, gelb für 0,6 Millimeter, rot für 0,1 Millimeter.

(Foto links: AVENTICUM-Römermuseum Avenches / Jürg Zbinden; Bild rechts: Paul Scherrer Institut / Gruppe Neutronenradiografie und Aktivierung)

Wie produktiv ihre Zusammenarbeiten sind, begeistert sowohl die Spezialisten für das Kulturerbe als auch den PSI-Experten für modernste Bildgebungstechniken. Doch es braucht dafür den Willen beider Seiten, aufeinander zuzugehen. Marie Wörle, Leiterin des Labors für Konservierungsforschung am Schweizerischen Nationalmuseum, schätzt das Vorgehen der Wissenschaftler an der Neutronenquelle: Die Physiker vom PSI und wir haben eine ähnliche Arbeitseinstellung, findet sie. Auf beiden Seiten herrscht eine sehr grosse Offenheit gegenüber neuen Themen und der Zusammenarbeit mit externen Wissenschaftlern.

Neutronenbilder zeigen, wo die Korrosion zuschlägt

Gerade Kunsthistoriker, Archäologen und Konservierungsforschende wie Wörle profitieren von den Erkenntnissen, die die Bildgebung an der Neutronenquelle SINQ des PSI liefert: Die spanische Figur eines Geigers aus dem Jahr 1920, die aus Holz gefertigt und mit einer Bleiverkleidung versehen wurde, offenbarte in den Neutronenbildern eine verborgene Korrosion: Das Blei zersetzt sich von innen heraus, weil aus dem Holz organische Säuren austreten. Ein zweites Beispiel sind historische Blechblasinstrumente: Damit sie sowohl noch gespielt als auch bewahrt werden können, fand Wörle dank der Neutronen heraus, an welchen Stellen sich während der Nutzung Feuchtigkeitsblasen bilden. In einem weiteren Gemeinschaftsprojekt untersuchen derzeit die Forschenden des Schweizerischen Nationalmuseums, der Hochschule der Künste Bern und des PSI eine Konservierungstechnik für antike Objekte; dabei zeigen die Neutronenbilder, ob die Korrosionsbehandlung bis in die gewünschte Tiefe wirkt.

Neutronenstrahlen verraten, was sich im Inneren von Metallobjekten befindet, ohne sie zu zerstören. Denn die Neutronen durchdringen Materialien, an denen jeder Röntgenstrahl – das klassische Mittel zur zerstörungsfreien Untersuchung – scheitert. Das freut sowohl die Forschenden als auch die Museumsangestellten. Es geht darum, einen Blick ins Innenleben der Objekte zu gewinnen, erklärt Myriam Krieg, Leiterin des Labors für Konservierung und Restaurierung am Römermuseum in Avenches. Etwa bei einem Armreif, der einen bauchigen, einst aufklappbaren Hohlraum besass. Experten für die römische Periode der Schweiz wissen, dass in solchen mitunter eine Münze – vielleicht als Talisman – aufbewahrt wurde. Das besagte Schmuckstück war allerdings über die Jahrhunderte zukorrodiert. Die Archäologen hätten die Kapsel nun gerne aufgebrochen, um hineinzuschauen, erzählt Krieg. Für die Restauratorin unvorstellbar. Sie wandte sich stattdessen an das PSI: Die Untersuchung an der SINQ ergab, dass sich in dem Hohlraum keine Münze befand – sondern mehrere kleine Metallkügelchen und eine noch nicht näher identifizierte Substanz. Manchmal wirft eine neue Erkenntnis eben weitere Fragen auf.

Armreif, 1. Jhd. n. Chr.

Der bauchige, einst aufklappbare Hohlraum eines römischen Armreifs. Da dieser mit der Zeit zukorrodiert war, sollte die Neutronenbildgebung zeigen, was bis heute im Hohlraum verborgen ist. Tatsächlich offenbarte die Methode (siehe rechts) unter anderem mehrere Metallkügelchen (dunkelgrün eingefärbt).

(Foto links: AVENTICUM-Römermuseum Avenches / Andreas Schneider; Bild rechts: Paul Scherrer Institut / Gruppe Neutronenradiografie und Aktivierung)

Sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen und die Resultate zusammen zu besprechen, führt oft zu erstaunlichen Erkenntnissen, meint Krieg. Einer der neuesten Funde, den sie am PSI untersuchen liess, war ein Necessaire: ein Kosmetikset aus Messing, das die römischen Bewohner von Avenches mit in die Therme nahmen. Wie an einem Schweizer Taschenmesser hingen an diesem Ring unter anderem Klingen zur Entfernung von Körperhaaren und kleine Löffel, die der Ohrenreinigung dienten.

Für Kulturwissenschafler wie Krieg ist die Atmosphäre am PSI eine neue Erfahrung: Zutiefst beeindruckt – beinahe ehrfürchtig, so beschreibt sie ihre Gefühle, als sie das erste Mal die Hallen der Neutronenquelle SINQ betrat: Strenge Sicherheitsvorkehrungen, Kontaminationstests und Betonmauern, hinter denen der Neutronenstrahl auf antike Artefakte und andere Untersuchungsobjekte gerichtet wird, sind eher ungewohnt für Menschen, die ihrer Arbeit sonst in der vergleichsweise schlichten Atmosphäre eines Museumsbetriebs nachgehen.

Ein Untersuchungslabor wie ein Atombunker

Michael Henss, promovierter Kunsthistoriker und Experte für asiatische Kunst, beschreibt seinen ersten Eindruck noch dramatischer: Man hat das Gefühl, in einen Atombunker zu kommen. Henss hatte durch einen Kollegen von der Maschine gehört, mit deren Hilfe man durch Metalle hindurchschauen könne. Das war genau, was er suchte: Im tibetischen und chinesischen Buddhismus werden seit etlichen Jahrhunderten hohle Statuen aus Bronze, Messing und anderen Kupferlegierungen mit Weihegaben befüllt, die ihnen Leben und religiöse Bedeutung einhauchen sollen. Eine ganze Palette an Möglichkeiten gibt es da: heilsame Kräuter, Blumen, edle Hölzer, Schriftrollen mit Mantras, also buddhistischen religiösen Formeln, und einiges mehr. Das Ritual läuft nach strengen Regeln ab. Eine massive Metallplatte verschliesst den Boden der Buddhastatue. Sie zu öffnen, käme einer Entweihung gleich. Die Technologie der Neutronenbildgebung jedoch bringt den verborgenen Inhalt der Statuen ganz ohne dies ans Licht. Was für den Asien-Experten keine Überraschung darstellte, war für die PSI-Wissenschaftler hingegen neu. Tatsächlich zu sehen, was sich im Inneren der Skulpturen befindet, beeindruckte allerdings auch Henss. Aus dieser Kooperation erwuchsen Folgeprojekte des PSI mit Henss sowie zahlreichen Museen und privaten Sammlern buddhistischer Kunst, und im Jahr 2014 sogar ein Symposion am Rietberg-Museum in Zürich. Henss ist begeistert: Das ist wirklich eine seltene und faszinierende Zusammenarbeit zwischen Natur- und Kulturwissenschaft.

Silver Lama, 17. oder 18. Jahrhundert

Tibetische Figur, aus Bronze und Silber gefertigt. Das Neutronenbild zeigt viele kleine Schriftrollen mit buddhistischen Texten, die sich im Hohlraum der Figur befinden.

(Bild: Paul Scherrer Institut / Gruppe Neutronenradiografie und Aktivierung)

Auch Marc Aurels Geheimnis liess sich schliesslich dank der Neutronenbilder ergründen: Die Archäologen des Römermuseums in Avenches konnten dadurch erkennen, dass die nur rund einen Millimeter dicke Metallbüste sehr wahrscheinlich aus einer einzigen Goldplatte gefertigt war. Und nicht nur das: In den Neutronenbildern konnten die Archäologen sogar einzelne Hammerschläge der römerzeitlichen Erschaffer identifizieren und so die kunstvolle Arbeitsweise nachvollziehen, mit der die Büste einst gefertigt worden war. 

Text: Luise Loges