«Wir waren schockiert, wie weit die Schmelze schon fortgeschritten ist»

Kürzlich sind Forschende des Labors für Umweltchemie am PSI von einer Expedition auf den Gletscher des Grand Combin im Wallis zurückgekehrt. Mit Kollegen aus Italien wollten sie dort auf 4100 Metern Höhe Eisbohrkerne für das internationale „Ice Memory“-Projekt ziehen. Dieses sieht vor, solche Bohrproben von Gletschern weltweit einzusammeln und in einer künstlich angelegten Eishöhle der zuverlässig kalten Zentral-Antarktis einzulagern. So sollen sie auch künftigen Forschergenerationen als Klimaarchiv dienen. In den Schichten der Gletscher sind durch Lufteinschlüsse und Schwebstaubpartikel die Klimabedingungen und die Zusammensetzung der Atmosphäre vergangener Zeitalter konserviert. Mit den Technologien der Zukunft wird man sie noch genauer analysieren können. Bis zu 10 000 Jahre zurück reichen solche natürlichen Archive. Doch die Erderwärmung lässt das Projekt zu einem Wettlauf mit der Zeit werden. Das zeigt die Expedition nur allzu deutlich.

Expeditionsleiterin Margit Schwikowski mit einem Eisbohrkern
(Foto: Scanderbeg Sauer Photography)

Frau Schwikowski, 80 Meter tief in den Gletscher bis auf den Felsgrund wollten Sie bohren, um auch die ältesten Eisschichten zu bergen. Wie hat das Vorhaben geklappt?

Leider nur durchwachsen. 2016 hatten unsere Kollegen aus Venedig bereits einen zehn Meter langen Eisbohrkern auf dem Grand Combin gezogen. Der sah vielversprechend aus und zeigte die erwartete Signatur aus jährlichen Schwankungen der Partikelablagerungen. Und so wollten wir gemeinsam eigentlich schon letztes Jahr einen längeren Eiskern ziehen, um ihn für künftige Forschergenerationen vor der Gletscherschmelze zu bewahren. Schlechtes Wetter und die Corona-Pandemie sorgten dafür, dass wir die Expedition erst jetzt machen konnten. Doch wir bekamen Schwierigkeiten, kaum dass wir den Bohrer angesetzt hatten.

Wo lag das Problem?

Schon nach einem halben Meter stiessen wir auf eine harte Eisschicht, wo wir normalerweise noch relativ weichen Firn erwarten – Firn ist alter Schnee, der zu graupelartigen Körnern umgewandelt ist und in den Alpengletschern normalerweise erst in 40 bis 50 Metern Tiefe unter dem Druck in eine kompakte Eisschicht übergeht. Eine solche Schicht weiter oben nennen wir „superimposed ice“. Sie entsteht, wenn es so warm ist, dass der Schnee an der Oberfläche schmilzt und das Wasser einsickert bis in eine Tiefe, wo es kalt genug ist, dass es wieder friert. Das war also kein gutes Zeichen.

Aber Sie konnten weiterbohren?

Ja, wobei wir immer wieder auf solche Schichten trafen. Bei 17 Metern blieb dann der Bohrer stecken. Er hat ein knapp ein Meter langes, hohles Bohrrohr aus Aluminium. Dieses wird zusammen mit dem Spanrohr und dem Motor an einem Kabel heruntergelassen, das ihn mit Strom versorgt. Damit fräsen wir eine acht Zentimeter dicke und 70 Zentimeter lange Stange aus Eis aus dem Gletscher, dann holen wir den Bohrer heraus, lagern die enthaltene Eisstange ein und bohren das nächste Stück. Und beim Herausziehen blieben wir jetzt hängen. Wohl weil die feste Eisschicht bei 17 Metern sich verschoben hatte, oder weil die Schicht darunter so weich war, dass der Bohrer sich leicht seitlich bewegen konnte und beim Zurückziehen mit dem Eis verkantete. Mit viel Mühe konnten wir ihn doch noch herausfischen und stellten fest, dass da unten sogar flüssiges Wasser vorlag. Als wir es dann weiterprobierten, blieben wir bei 25 Metern endgültig stecken. Nur mit Frostschutzmitteln konnten wir den Bohrer wieder befreien. Dadurch wurde dieses Bohrloch aber natürlich unbrauchbar – die Chemikalien kontaminieren jede weitere Probe.

Haben Sie es an anderen Stellen versucht?

Natürlich, an mehreren. Doch überall blieben wir wieder in der gleichen Tiefe hängen. Die kompakten Bereiche waren also nicht nur räumlich begrenzte Eislinsen, sondern ganze Schichten, die den Gletscher durchziehen. Wir mussten abbrechen, weil wir sonst riskiert hätten, den Bohrer zu verlieren.

Wie interpretieren Sie das?

Wir waren total schockiert. Denn damit war klar: Für diesen Gletscher sind wir mit unserem Projekt womöglich schon zu spät dran. Hier muss es in den letzten Jahren so warm gewesen sein, dass sehr viel Schmelzwasser weit in die Tiefe vordringen konnte. Dabei verfrachtet es die Partikel, deren Schichtung über die Zeit wir nachvollziehen wollen. Wenn es mal ein paar Tage zu warm ist und die restliche Zeit kalt bleibt, ist das kein Problem. Dann erreicht das Schmelzwasser keine grosse Tiefe, bevor es wieder einfriert. Womöglich ist nur die oberste Jahresschicht betroffen. So haben wir das etwa bei Bohrungen in Tibet und Sibirien erlebt. Aber in den Alpen sieht es düster aus. Mit einigen Lücken kommen wir klar, aber nicht mit einer durchgehend verzerrten Signatur.

Wie geht es jetzt weiter?

Immerhin haben wir jetzt einige 17 Meter lange Eisbohrkerne, die ungefähr die letzten 15 Jahre abdecken. Das ist nicht viel, reicht aber hoffentlich für ein Forschungsprojekt, in dem eine unserer Doktorandinnen prüfen möchte, inwieweit organische Moleküle zum Beispiel von Waldbränden oder aus der Verbrennung fossiler Kraftstoffe im Gletschereis konserviert wurden. Wir analysieren jetzt also, ob zumindest diese 17 Meter brauchbar sind. Wenn ja, dann versuchen wir es vielleicht noch mal mit einem thermischen statt einem elektromechanischen Bohrer. Dieser schmilzt sich seinen Weg in die Tiefe und bleibt nicht so leicht hängen. Wir hatten ihn nicht dabei, weil die Voruntersuchung keine Probleme erwarten liess. Sollte der Eisbohrkern sich jedoch als unbrauchbar erweisen, bleibt uns in den Alpen als Alternative nur noch der Grenzgletscher im Monte-Rosa-Massiv südöstlich von Zermatt. Der dortige Sattel Colle Gnifetti liegt auf 4500 Metern und sollte noch wenig beeinflusst von der Schmelze sein – zumindest war das so, als wir dort zuletzt 2015 gebohrt haben.

Können Sie das weltweite Ziehen der Eisbohrkerne beschleunigen, um Ice Memory rechtzeitig anzulegen?

Unsere internationale Initiative will gut 20 Bohrkerne aus aller Welt einsammeln. Mit dem Grand Combin hätten wir deren fünf – vom Mont Blanc, vom Elbrus, vom Illimani in Bolivien und vom Belucha in Sibirien. In Planung ist auch eine Bohrung am Kilimandscharo in Ostafrika, aber dort ist momentan die politische Situation zu schwierig, um loszulegen. Und da liegt auch eines unserer Hindernisse: Wir können nicht einfach schneller machen. Zum einen, weil an vielen Gletschern die Umstände schwierig sind und wir den richtigen Zeitpunkt abwarten müssen. Zum anderen, weil diese Expeditionen zeitaufwendig sind und nur von erfahrenen Teams durchgeführt werden können. Die beteiligten rund 20 Forscher machen das mehr oder weniger in ihrer Freizeit. Wir müssen das immer mit anderen Forschungsprojekten verbinden, damit wir den Aufwand rechtfertigen können. Darum wollen wir jetzt eine internationale Stiftung gründen, bei der das PSI als Gründungsmitglied dabei ist, um das Projekt auch finanziell auf stabilere Beine zu stellen. Kommendes Jahr will sich die weltweite Eisbohrkern-Community auf einer Konferenz in Crans-Montana treffen. Dort soll es auch um den Fortgang von Ice Memory gehen.

Interview: Jan Berndorff

Weiterführende Informationen

Kontakt/Ansprechpartner

Prof. Dr. Margit Schwikowski
Leiterin Labor für Umweltchemie
Paul Scherrer Institut, Forschungsstrasse 111, 5232 Villigen PSI, Schweiz
Telefon: +41 56 310 41 10, E-Mail:
margit.schwikowski@psi.ch

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