Der Protonenbeschleuniger des PSI: 40 Jahre Spitzenforschung

Materialforschung, Teilchenphysik, Molekularbiologie, Archäologie — seit 40 Jahren ermöglicht der grosse Protonenbeschleuniger des Paul Scherrer Instituts PSI Spitzenforschung auf verschiedenen Gebieten. Anfangs sollte er helfen, aktuelle Fragen der Teilchenphysik zu klären — dafür wurden mit seiner Hilfe Pionen erzeugt. Später wurden die Anlagen um den Beschleuniger herum ausgebaut, sein Protonenstrahl wurde nun auch zur Erzeugung von Neutronen und Myonen für unterschiedlichste Experimente genutzt — vielfach auf Forschungsgebieten, an die beim Bau der Anlage niemand gedacht hatte. Heute können hier bis zu zwanzig Experimente gleichzeitig stattfinden; viele werden von externen Forschenden durchgeführt, die die zum Teil einzigartigen Forschungsmöglichkeiten nutzen wollen. Die Ergebnisse finden oft weltweit Beachtung. Entscheidend für den Ausbau der Anlagen war eine konstante Weiterentwicklung des Beschleunigers, die es möglich gemacht hat, den Protonenstrom über die vier Jahrzehnte um einen Faktor 24 zu erhöhen. Heute liefert der grosse Protonenbeschleuniger des PSI den leistungsstärksten Protonenstrahl der Welt. Die Erfahrungen, die die Forscher und Ingenieure des PSI an der Anlage gesammelt haben, waren auch Grundlage für die Einrichtung der Protonentherapie, mit der am PSI bereits mehrere Tausend an Krebs erkrankte Patienten erfolgreich behandelt worden sind. Ein Festsymposium am 24. Februar 2014 bietet Gelegenheit für einen Blick in die Pionierzeit und einen Ausblick auf das Forschungsprogramm der kommenden Jahre.

Der Cockcroft-Walton-Beschleuniger — die erste Stufe der Protonenbeschleunigeranlage. (Foto: Paul Scherrer Institut/Markus Fischer)
Der grosse Protonenbeschleuniger des PSI. Die Aufnahme ist 2010 entstanden als zuletzt die Dachabschirmung komplett entfernt worden war. Auf der Galerie sind Mitarbeitende aus dem Umfeld der Anlage zu sehen. (Foto: Paul Scherrer Institut/Markus Fischer)
Die Forschenden Lukas Keller und Nikola Egetenmeyer am DMC-Instrument an der Spallations-Neutronenquelle SINQ. (Foto: Paul Scherrer Institut/Markus Fischer)
Der PSI-Forscher Hubertus Luetkens am GPS- Myoninstrument. (Foto: Paul Scherrer Institut/Markus Fischer)
Die PSI-Forscher Peter-Raymond Kettle (links) und Stefan Ritt am Strahlrohr, durch das die Myonen zum MEG-Experiment gelangen, in dem der extrem seltene Zerfall des Myons in ein Positron und ein Photon nachgewiesen werden soll. (Foto: Paul Scherrer Institut/Markus Fischer)
Ein Patient wird an der Protonentherapieanlage OPTIS des PSI wegen eines Tumors im Auge behandelt. (Foto: Paul Scherrer Institut)
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Ein supraleitender Zustand, der durch ein starkes Magnetfeld erzeugt wird, neue Materialien, die den Weg zu Natrium-Ionen-Batterien aufzeigen könnten, Einblicke in die Arbeitsmethoden bronzezeitlicher Handwerker, neue Messungen des Protonenradius, Tests des Standardmodells der Elementarteilchenphysik — fünf aus über hundert Forschungsergebnissen, die alleine 2013 veröffentlicht wurden und am PSI mit Hilfe von Neutronen oder Myonen erzielt worden sind. Möglich gemacht hat sie der grosse Protonenbeschleuniger des Paul Scherrer Instituts — seit 40 Jahren liefert er zuverlässig einen Protonenstrahl, mit dem die für die Experimente nötigen Teilchen erzeugt werden. Der Protonenstrahl trifft zunächst auf zwei Kohlenstofftargets, wobei Pionen und Myonen für Festkörperforschung und Teilchenphysik entstehen, und setzt dann seinen Weg zum Bleitarget der Neutronenquelle SINQ fort, wo er Neutronen für Untersuchungen zur Materialforschung, Molekularbiologie oder gar Archäologie freisetzt. Einen Bruchteil der Zeit kann der volle Strahl auch auf ein zweites Bleitarget gelenkt werden, um besonders langsame, ultrakalte Neutronen zu erzeugen, an denen die Eigenschaften des Neutrons selbst untersucht werden. An rund 20 Messplätzen kann um den Protonenstrahl gleichzeitig experimentiert werden — einzelne dieser Experimente sind nur am PSI möglich. So erzeugt man nur hier so viele Myonen, dass die Suche nach bestimmten seltenen Myonenzerfällen innerhalb eines Menschenlebens Ergebnisse liefern kann, und nur hier gibt es Myonen, die langsam genug sind, dass man damit dünne Materialschichten untersuchen kann.

Das Herzstück: der Beschleuniger selbst

Der Protonenbeschleuniger selbst steht meist im Schatten der Forschung, die er ermöglicht. Dabei ist er selbst ein technisches Meisterwerk und ein eigenes Forschungsprojekt. Denn nur dank neuer Ideen ist die konstante Verbesserung des Beschleunigers möglich. Schon das Grunddesign war innovativ: der grosse Protonenbeschleuniger wurde als Ringbeschleuniger (in der Fachsprache: Zyklotron) gebaut, dessen Magnetfeld von acht voneinander vollständig getrennten Dipolmagneten erzeugt wird. So konnten zwischen die Magnete vier leistungsfähige Kavitäten eingebaut werden, in denen ein starkes elektrisches Wechselfeld die Protonen in grossen Energieschritten beschleunigt. Die Zentrifugalkraft drängt die Protonen dabei immer weiter nach aussen, die sich so auf einer Spiralbahn bis zum Rand des Beschleunigers vorarbeiten. Dort haben sie ihre Endenergie von 590 MeV erreicht und können ausgekoppelt und zu den Targets geleitet werden. Seit der Inbetriebnahme wurde der Protonenstrom von Anfangs 100 μA auf damals unvorstellbare 2,4 mA erhöht — eine Erhöhung, von der alle Experimente profitieren. Martin Humbel, der den Beschleuniger seit seinen Anfängen kennt, nennt Beispiele für Verbesserungen: Anfangs wurden die Felder in den Kavitäten sinusförmig variiert, die Protonen konnten nur in der Nähe des zeitlichen Feldmaximums beschleunigt werden, sodass ohne die Austrittsregion unzulässig stark zu aktivieren nur rund 4% der vom Vorbeschleuniger ankommenden Protonen genutzt werden konnten. Als man eine weitere Kavität mit dreifacher Frequenz dazugefügt hatte, ergab sich in der zeitlichen Feldstruktur ein Plateau, mit dem man nun um die 15% der Protonen beschleunigen konnte. Beim bisher letzten grossen Umbau im Jahr 2008 wurden die letzten beiden Kavitäten ausgetauscht — die neuen Kavitäten erzeugen stärkere Felder, sodass die Protonen weniger Runden bis zur Endenergie brauchen. Dadurch sind benachbarte Protonenbahnen weiter voneinander entfernt. Der grössere Bahnabstand ermöglichte eine weitere Verdoppelung der Protonenstrahlstärke. Der Protonenstrom, der am Ende zur Verfügung steht, hängt aber nicht nur von den Möglichkeiten ab, die Protonen zu beschleunigen. Die strahlstrombegrenzende Grösse beim Zyklotron ist die Aktivierung der Extraktionsregion. Das heisst, wenn der Anteil der Protonen, die bei der Extraktion verlorengehen, reduziert wird, kann man den Strom erhöhen, betont Humbel Dank Verbesserungen an der Anlage hat man erreicht, dass die Anlage extrem sauber arbeitet, sodass 99,99% der beschleunigten Protonen auch tatsächlich extrahiert werden.

Der Anfang: Forschen mit Pionen

Gebaut wurde der grosse Protonenbeschleuniger für die Mittelenergiephysik, Teilchenphysik, in der vor allem die Wechselwirkung von Pionen mit Protonen und Neutronen untersucht wurde und von der man sich ein Verständnis der starken Kernwechselwirkung erhoffte. Auch wenn sich diese Hoffnung nicht erfüllt hat, haben die Experimente viele genaue Ergebnisse geliefert, die bis heute gültig sind, betont Klaus Kirch, Leiter des Labors für Teilchenphysik am PSI und Professor an der ETH Zürich.

Mit Myonen ins Innere von Materialien schauen

Bereits vor der Inbetriebnahme hatten sich Forschende aber auch Gedanken über Experimente zur Festkörperphysik gemacht. So hat man schon 1971 an einer Tagung diskutiert, ob man an dem Beschleuniger Materialien mit Myonen untersuchen könnte. Man wusste, dass die polarisierten Myonen, die bei Pionenzerfällen entstehen, geeignet sind, um als mikroskopische Sonden im Inneren von Festkörpern eingesetzt zu werden. Entsprechende Experimente waren unter anderem am CERN durchgeführt worden. Und tatsächlich wurden 1975 am heutigen PSI die ersten Experimente mit dem Verfahren der Myonen-Spin-Rotation durchgeführt, 1976 erschien die erste Veröffentlichung. Über lange Zeit teilten sich die Festkörperforscher die Messplätze mit den Teilchenphysikern. Erst Anfang der neunziger Jahre gab es den ersten festen Messplatz, nachdem 1989 der Nutzerdienst an der Myonenquelle, die nun SμS hiess, eingeführt worden war, erinnert sich Elvezio Morenzoni, heute Leiter des Labors für Myonenspinspektroskopie am PSI und Professor an der Universität Zürich. Inzwischen gibt es hier sechs feste Messplätze für Myonenexperimente, die eifrig von Forschern aus aller Welt nachgefragt werden. Schliesslich gibt es Myonen für die Festkörperforschung nur an wenigen Orten der Welt. Und langsame Myonen, mit denen die einzelnen Schichten von Dünnschichtsystemen untersucht werden können, gibt es weltweit nur am PSI.

Von Supraleitern bis zu alten Schwertern — Neutronen am PSI

Früh hat man auch schon an die Möglichkeit gedacht, die Protonen aus dem Beschleuniger zur Erzeugung von Neutronen zu nutzen. Diese Idee wurde anfangs verworfen — der Protonenstrom hätte nicht ausgereicht, um einen ausreichenden Neutronenfluss zu erzeugen. Die Überlegungen wurden aber bald wieder aktuell. Zum einen haben die Beschleunigerfachleute gezeigt, dass sich der Protonenstrom um einen Faktor zehn erhöhen liesse. Zum anderen wurde die Stilllegung der Reaktoren, an denen bislang Neutronenforschung betrieben worden war, beschlossen. Gleichzeitig war klar, dass die Schweizer Forscher nicht auf eine eigene Neutronenquelle verzichten können, so Albert Furrer, ehemaliger Leiter des Labors für Neutronenstreuung am PSI und einer der Initianten der Neutronenquelle. Im Jahr 1996 ging dann die Schweizer Spallations-Neutronenquelle SINQ des PSI in Betrieb. Die Protonen aus dem grossen Teilchenbeschleuniger treffen hier auf ein Bleitarget und schlagen aus den Bleikernen die Neutronen heraus, die dann für Experimente zur Verfügung stehen. Von Anfang an werden Neutronen in zwei Wellenlängenbereichen produziert: thermische Neutronen mit kurzer Wellenlänge, die besonders in der Strukturaufklärung zum Einsatz kommen, und kalte Neutronen, die vorher in flüssigem Deuterium abgebremst wurden. Diese sind etwa für die Untersuchungen von Materialien und biologischen Proben besonders nützlich. Heute ist die SINQ eine etablierte Neutronenquelle mit 13 Instrumenten, an denen jährlich über 400 Experimente durchgeführt werden. Streuexperimente zeigen Strukturen und Bewegung im Inneren von Hochtemperatursupraleitern, magnetischen Materialien oder biologischen Substanzen. Imaging-Experimente erzeugen Bilder des Inneren von verschiedensten Objekten — von Verbrennungsmotoren bis zu archäologischen Objekten.

Teilchenphysik jenseits der Riesenbeschleuniger

Bei dem Wort Teilchenphysikexperimente denkt man heutzutage meist an Riesenbeschleuniger wie den LHC am CERN. Doch der grosse Protonenbeschleuniger des PSI macht es möglich, dass auch hier relevante Teilchenphysik betrieben wird, die komplementär zur Forschung am CERN ist. Denn während dort die Teilchen mit besonders hohen Energien aufeinanderprallen sollen, nutzt man hier, dass man besonders viele Teilchen zur Verfügung hat. Das ist etwa wichtig für die Suche nach dem extrem seltenen Zerfall des Myons in ein Elektron und ein Photon (MEG-Experiment), denn man muss sehr vielen Myonen beim Zerfallen zusehen, um auch nur eine geringe Chance zu haben, einen solchen Zerfall zu sehen. Die Tatsache, dass der Zerfall bisher nicht beobachtet worden ist, legt einen Maximalwert für die Wahrscheinlichkeit des Zerfalls fest und schliesst damit bestimmte Alternativen des Standardmodells aus. Mit dem Erfolg der MEG-Kollaboration stammen derzeit alle aktuellen Rekordlimite auf seltene Myonzerfälle von am PSI durchgeführten Experimenten, betont Kirch. Und wir bemühen uns, die Myonintensitäten am PSI weiter zu verbessern. Ein anderes spektakuläres Experiment ist die Vermessung des Protonenradius. Dafür wird in Wasserstoffatomen das Elektron durch ein Myon ersetzt, und man vermisst mit Hilfe eines Lasers die Energieniveaus des myonischen Wasserstoffs — und das alles in der kurzen Lebenszeit des Myons. Wegen der höheren Masse des Myons reagieren seine Energieniveaus besonders empfindlich auf die Grösse des Protons.

Mitte 2011 ist die Ultrakalte Neutronenquelle des PSI in Betrieb gegangen. Sie hat ein eigenes Target, ähnlich dem der SINQ, aus dem der Protonenstrahl Neutronen herausschlägt. Die Neutronen werden dann aufwendig abgebremst bis sie ultrakalt sind. An ihnen sollen die Eigenschaften des Neutrons selbst untersucht werden. Als erstes will man die Frage klären, ob das Neutron ein elektrisches Dipolmoment hat — eine Frage, die wichtig ist, wenn man verstehen will, warum es im Weltraum mehr Materie als Antimaterie gibt.

Heilung aus dem Beschleuniger

Seit 1984 diente die Beschleunigeranlage nicht nur der Forschung — denn seither wurden mit dem Protonenstrahl auch Patienten behandelt, die an bestimmten Krebsarten erkrankt sind. Anfangs kam der Protonenstrahl für die Therapie je nach Behandlungsart aus einem Vorbeschleuniger des grossen Protonenbeschleunigers oder aus dem grossen Protonenbeschleuniger selbst. Heute hat die Protonentherapie einen eigenen Beschleuniger und drei Behandlungsplätze. Möglich gemacht durch die Beschleunigerkompetenz der PSI-Mitarbeitenden.

Text: Paul Piwnicki