Wissen für morgen aus den „heissen Zellen“

Die Manipulation und Untersuchung von bestrahlten und daher radioaktiven Materialien, sei es aus Kernkraftwerken oder aus Forschungsanlagen, erfordert strenge Sicherheitsvorkehrungen. Untersuchungen dürfen nur in sogenannten „heissen Zellen“ durchgeführt werden, hinter deren bis zu einem Meter dicken Beton- und Bleiwänden die Radioaktivität hermetisch eingeschlossen und abgeschirmt wird, um die Mitarbeiter zu schützen und eine Kontamination der Umwelt zu vermeiden.

Panorama des Hotlabors mit Operateuren an den Hotzellen. Bild: Paul Scherrer Institut.
Daniel Kuster, Leiter der Gruppe Hotzellenexperimente, war mit seinem Team für die Zerlegung des MEGAPIE-Targets im PSI-Hotlabor zuständig. Bild: Markus Firscher/ Paul Scherrer Institut.
Eigens für das Ausschmelzen des Targets gebauter Schmelzofen. Bild: Paul Scherrer Institut.
Beim Zerschneiden des Targets war äusserste Vorsicht geboten. Bild: Paul Scherrer Institut.
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In den heissen Zellen des Hotlabors am Paul Scherrer Institut PSI werden regelmässig die abgebrannten Brennstäbe aus den Schweizer Kernkraftwerken materialwissenschaftlich untersucht. Hier werden zum Beispiel Effekte wie die mögliche Versprödung und Oxidierung der Brennstabhüllen, visuelle und geometrische Veränderungen der Brennstäbe sowie Veränderungen der Eigenschaften des Brennstoffs selbst genauestens unter die Lupe genommen. Die gewonnenen Erkenntnisse helfen den KKW-Betreibern, die Effizienz und Sicherheit ihrer Kraftwerke zu optimieren. Neben dieser Dienstleistung für die Kernkraftwerke beteiligt sich das Hotlabor an internationalen Forschungsprojekten.

Neutronenquelle der Zukunft

Ein gutes Beispiel hierfür ist das Projekt MEGAPIE (Megawatt Pilot Experiment), an dem Wissenschaftler renommierter Forschungseinrichtungen aus der EU, den USA, Japan und der Schweiz teilnehmen. Das PSI trägt mit mehreren Einheiten(*) massgeblich zum Erfolg des Projekts bei. Die wesentlichen Ziele von MEGAPIE sind die Demonstration, Genehmigung und der sichere Betrieb sowie die anschliessende Untersuchung und Entsorgung eines Hochleistungstargets aus flüssigem Blei-Wismut für die Erzeugung eines starken Neutronenstrahls durch den Prozess der Spallation. Beim Prozess der Spallation werden Protonen auf eine Zielscheibe (Target) aus Schwermetallen geschossen, um die Schwermetallkerne zu zertrümmern und dabei Neutronen aus ihnen herauszuschlagen. Der Vorteil eines Flüssig-Blei-Wismut-Targets besteht in der höheren Intensität des daraus erzeugten Neutronenstrahls, die gemäss theoretischen Berechnungen um rund 80 Prozent höher ausfällt als bei konventionellen wassergekühlten Feststoff-Targets. Ein höherer Neutronenfluss ermöglicht kürzere Messzeiten für wissenschaftliche Experimente und somit ein erweiterter Zugang zu diesen von Forschern verschiedener Disziplinen stark gefragten Neutronenquellen.

Bei MEGAPIE hat man erstmals den Dauerbetrieb eines flüssigen Blei-Wismut-Targets unter sehr intensiver Protonenbestrahlung demonstriert. Während vier Monaten, vom August bis Dezember 2006, wurde das flüssige Blei-Wismut-Target vom weltweit stärksten Protonenstrahl des Protonenbeschleunigers HIPA am PSI unter Beschuss genommen. Die dabei erhaltene Neutronenausbeute bestätigte die theoretischen Prognosen. Damit ist ein beachtlicher Fortschritt in Richtung Dauerbetrieb eines solchen flüssigen Hochleistungstargets erreicht. Zum Vergleich: an der Neutronenspallationsquelle des PSI (SINQ) beträgt die Betriebsdauer des Standard-Spallationstargets aus Blei 2 Jahre.

Materialwissenschaftliche Untersuchungen zum Abschluss von MEGAPIE

Nach dem Erfolg beim viermonatigen Testlauf des Blei-Wismut-Targets sind nun die Materialwissenschaftler an der Reihe. Sie wollen wissen, inwiefern das Target durch die enorme Strahlendosis belastet worden ist. Erste Untersuchungen zielten bisher auf die am stärksten geforderte Komponente: das Strahlfenster, durch das der Protonenstrahl ins Target eintrat. Durch zerstörungsfreie Prüfung hat man zwei äusserst wichtige Erkenntnisse gewonnen: erstens sind keine Risse oder auch nur Rissvorläufer im Stahl des Strahlfensters gefunden worden; und zweitens blieb auch die Dicke der Stahlwand, von nur rund 2 Millimeter, praktisch unverändert. All dies trotzt der sehr intensiven Protonenbestrahlung, der das Target ausgesetzt war.

Targetzerlegung im Hotlabor

Diese Tests stärken die Hoffnung der Wissenschaftler in die Robustheit des MEGAPIE-Targets. Doch ein belastbarer Befund wird weitere, destruktive Untersuchungen des Targetmaterials erfordern. Zu diesem Zweck ist das Target von Wissenschaftlern, Ingenieuren und Technikern des PSI-Hotlabors bereits zerlegt worden, nachdem es im benachbarten ZWILAG (Zwischenlager für radioaktive Abfälle aus den Schweizer Kernkraftwerken) zunächst in 21 Teile zersägt worden war. Die sichere und präzise Manipulation eines solch hochradioaktiven Materials ist eine Aufgabe, die in der Schweiz nur am PSI zu gutem Erfolg gebracht werden kann. Zuerst musste das Blei-Wismut-Gemisch ausgeschmolzen werden, denn ausser Betrieb erkaltet die Schwermetallmischung unter ihren Schmelzpunkt. Erhitzt werden durfte das Blei-Wismut aber nur gerade genug für das Ausschmelzen, denn man wollte nicht durch Überhitzung den noch zu untersuchenden Zustand der Stahlhülle verändern. Daher bauten Forscher der Gruppe für Targetentwicklung, der Abteilung Maschinen-Ingenieurwissenschaften und des Hotlabors unter der Leitung des MEGAPIE-Projektleiters Michael Wohlmuther einen eigens für diese Aufgabe ausgelegten Schmelzofen.

War das flüssige Blei-Wismut einmal ausgeschmolzen, ging es an das Zerschneiden der Targethülle. Auch hier war äusserste Vorsicht geboten. Die Trennscheibe der Fräsmaschine frass sich mit einem Vorschub von nur wenigen Millimetern pro Minute durch den Stahl. „Hier galt es die Temperatur der Targethülle unterhalb von 200 Grad Celsius zu halten, um deren Integrität für die kommenden Tests zu bewahren“, erklärt Daniel Kuster, der die Zerlegung des Targets im Hotlabor mit seiner Gruppe Hotzellenexperimente durchführte. Nachdem man rund 800 Proben hergestellt hat, steht dem MEGAPIE-Target nun die endgültige Bewährungsprobe bevor. Dessen Belastbarkeit unter Biege- oder Zugspannung nach der stürmischen Bestrahlungskampagne wird in den kommenden Monaten von den am Projekt beteiligten Partnern untersucht. Rund die Hälfte der gewonnen Proben wird am PSI unter der Leitung von Yong Dai, Materialwissenschaftler in der Gruppe für Nuklearmaterialien, untersucht, während die zweite Hälfte von Wissenschaftlern aus der EU, Japan und den USA unter die Luppe genommen werden. Die Ergebnisse werden für Ende 2014 erwartet.

Text: Leonid Leiva

(*) Neben dem Hotlabor aus dem Bereich Nukleare Energie und Sicherheit (NES) beteiligen sich folgende PSI-Einheiten am Projekt MEGAPIE: der Bereich Forschung mit Neutronen und Myonen (NUM), der Bereich Grossforschungsanlagen (Abteilung Beschleunigerbetrieb und -entwicklung) und die Gruppe RadWaste Analytik (Bereich Biologie und Chemie).

Zusätzliche Information

Neutronen mit hoher Energie, wie sie aus dem MEGAPIE-Target herausgeschleudert werden, eignen sich auch dazu, langlebige und hochradioaktive Abfallstoffe aus Kernkraftwerken in kurzlebigere oder gar stabile Stoffe umzuwandeln. Diese Umwandlung (Transmutation) ist grundsätzlich in sogenannten Beschleuniger-getriebenen Systemen möglich. In diesen Systemen läuft die Kette von Kernspaltungsreaktionen (Fission) im Reaktor nicht eigenständig. Vielmehr wird sie durch das Einbringen von Spallationsneutronen kontrolliert, welche vom Beschuss eines Targets mit Protonen aus einem angekoppelten Beschleuniger stammen. Dafür ist die Komplexität einer solchen Anlage im Vergleich zu konventionellen Kernreaktoren, durch die Synchronisierung von Reaktor und Beschleuniger erhöht. Und ausserdem braucht man einen genügend starken Neutronenstrahl, um die Transmutation von möglichst vielen langlebigen Elementen hinzubekommen. MEGAPIE soll auch dazu wertvolle Daten und Erfahrungen liefern, wenn auch der Weg zu einer nutzbaren und kostengünstigen Transmutationstechnik gemäss den Fachleuten noch weit ist.

Weiterführende Informationen
Webseite des Hotlabors

Webseite des Projekts MEGAPIE
Kontakt / Ansprechpartner
Dr. Michael Wohlmuther, Projektleiter MEGAPIE, Paul Scherrer Institut,
Telefon: +41 56 310 30 52, E-Mail: michael.wohlmuther@psi.ch

Daniel Kuster, Leiter der Gruppe Hotzellenexperimente , Paul Scherrer Institut,
Telefon: +41 56 310 27 58, E-Mail: daniel.kuster@psi.ch