In den PSI-Laboren stellen Forschende Proteine des neuartigen Coronavirus Sars-CoV-2 her. Damit untersucht das Universitätsspital Zürich in Europas erster Langzeitstudie dieser Art, wie viele Menschen sich in der Schweiz tatsächlich mit dem Virus infiziert haben.
Es ist März 2020 – der Monat, in dem sich die Welt endgültig verändert: Experten ist klar geworden, dass sich das neuartige Coronavirus Sars-CoV-2 zu einer Pandemie ausbreitet. Der Bundesrat erklärt die ausserordentliche Lage gemäss Epidemiengesetz, schliesst nicht lebensnotwendige Geschäfte und Dienstleistungen sowie die Schweizer Grenzen.
Kurz darauf erhält Gebhard Schertler, Leiter des Bereichs Biologie und Chemie am PSI und Professor für Strukturbiologie an der ETH Zürich, eine Anfrage von Adriano Aguzzi. Der ist Direktor des Instituts für Neuropathologie am Universitätsspital Zürich (USZ) und plant eine gross angelegte Studie: Er will im Hochdurchsatzverfahren das Blut vieler Menschen im Grossraum Zürich auf Antikörper testen, die das Immunsystem Infizierter im Kampf gegen das Virus produziert. Das Forschungsprojekt soll ans Licht bringen, wie hoch die Dunkelziffer bei Ansteckungen ist. «Viele Corona-Infektionen verlaufen symptomlos, die Personen merken gar nicht, dass sie infiziert sind», erläutert Aguzzi. «Sie unterziehen sich daher auch keinem Test. Eine Antikörperstudie aber verrät die wahre Durchseuchung der Bevölkerung.»
Der Mediziner benötigt für seine Versuchsreihen dringend Teile des Virus in Reinform, genauer gesagt: dessen Proteine. Denn der Kontakt mit solchen Virusproteinen verursacht im menschlichen Immunsystem die Bildung von sogenannten Antikörpern – grossen Biomolekülen, die an Proteine von Krankheitserregern wie Sars-CoV-2 binden und diese unschädlich machen. Antikörper lassen sich auch noch Monate nach dem Kontakt mit dem Virus im Blut nachweisen, und praktischerweise docken sie ebenso an künstlich hergestelltes Virusprotein wie an natürliches.
Keine Minute gezögert
Die Proteine des Coronavirus sind zum damaligen Zeitpunkt allerdings noch nicht in ausreichender Qualität und Quantität kommerziell erhältlich. Adriano Aguzzi wendet sich deshalb an sein grosses Netzwerk von Forschenden in der Schweiz und der ganzen Welt, unter anderem auch ans PSI. «Es ist nicht überraschend, dass in einer solchen Notsituation ausgerechnet Gebhard Schertler angefragt wurde», sagt Jacopo Marino, Postdoc im PSI-Labor für biomolekulare Forschung. «Wir arbeiten hier seit vielen Jahren mit sehr herausfordernden Proteinen.»
Gebhard Schertler zögert nicht: «Wir kooperieren schon länger mit dem USZ, ursprünglich im Bereich der neurodegenerativen Erkrankungen, um bestimmte Proteine des Nervensystems zu erforschen », sagt er. «Es stand ausser Frage, dass wir diese Erfahrung nutzen würden, um Adriano Aguzzis Studie zu unterstützen.» Schertler bittet seinen Mitarbeiter Jacopo Marino, ein Team zusammenzustellen, um Coronavirusproteine für den Zürcher Forscherkollegen zu produzieren.
Die PSI-Forschenden machen sich trotz Lockdown sofort an die Arbeit. Eigentlich darf zu der Zeit niemand im Labor arbeiten, denn das PSI befindet sich in der dritthöchsten Stufe der Betriebseinschränkungen. «Aber für unsere Arbeiten zum Coronavirus haben wir eine Ausnahmeerlaubnis bekommen », erzählt Marino. Das PSI unterstützt die Forschungen zu Covid-19 auch finanziell.
Vom Gen zum Protein
Das Erbgut von Sars-CoV-2 besteht aus einem einsträngigen RNA-Molekül, das den Bauplan für unterschiedliche Proteine des Virus enthält. Drei dieser Proteine hatten bei Vortests in Aguzzis Labor starke Immunreaktionen hervorgerufen – sprich, der menschliche Körper produziert nach Kontakt damit viele Antikörper, die sich in Bluttests gut nachweisen lassen. Nach Absprache mit dem Forscherkollegen beschliesst das Team um Jacopo Marino, sich der Herstellung des sogenannten Nukleokapsid-Proteins zu widmen.
Dieses Protein bildet eine schützende Hülle um das Erbgut des Virus und ist damit essenziell für dessen Funktion und Vermehrung. In seinem natürlichen Zustand bildet es mit dem Erbmaterial des Virus grosse Komplexe aus vielen Molekülen.
Wir mussten buchstäblich innerhalb weniger Wochen Coronavirusexperten werden.
Die Forschenden bauen das Erbgut für das Nukleokapsid-Protein in die DNA von Säugetierzellen ein – ein Vorgang, den das Virus bei einer Infektion auch vornimmt. Anschliessend dürfen diese Zellen in einer Nährlösung in Glaskolben einige Tage lang wachsen und gedeihen. Dabei stellen sie das Protein her. Nächste Hürde ist es, das Protein in reiner Form aus der Zellkultur zu gewinnen. Der PSI-Doktorand Filip Karol Pamula entwickelt schliesslich ein Verfahren dafür.
«Wir mussten buchstäblich innerhalb weniger Wochen Coronavirusexperten werden – wie so viele andere Forschungsgruppen auch», sagt Marino. «Nur gut, dass es bereits so viele wissenschaftliche Informationen über andere Typen von Coronaviren gab.»
4000 Tests in 24 Stunden
Innerhalb von einigen Monaten stellen die Forschenden rund fünf Milligramm Nukleokapsid-Protein her, frieren es in flüssigem Stickstoff ein und liefern es ans USZ. Gleichzeitig arbeiten Forschungsgruppen an der ETH Zürich, an der EPFL in Lausanne, im britischen Oxford und im US-amerikanischen Yale auf Hochtouren, um andere für die Studie benötigte Eiweissmoleküle zu produzieren.
Mit den Lösungen dieser Proteine versetzt das Team um Adriano Aguzzi Blutproben, um zu sehen, ob sich darin Antikörper gegen das Virus befinden. Lassen sich diese nachweisen, war die Person, von der die Probe stammt, bereits mit dem Coronavirus infiziert. Da die Tests mit sehr geringen Flüssigkeitsmengen stattfinden, braucht der Mediziner auch entsprechend wenig Protein. Zudem geht das Ganze sehr schnell: 4000 Tests können die Forschenden innert 24 Stunden durchführen.
Die Blutproben stammen aus ganz unterschiedlichen Abteilungen des USZ, wurden also für Untersuchungen unabhängig von einer Covid-19-Erkrankung verwendet. Auch greifen die Forschenden auf Blutspenden zurück – von Menschen also, die zum Zeitpunkt der Blutabnahme völlig gesund gewesen sein sollten. Das ist der grosse Unterschied zu den Coronatests aus einem Nasen-Rachen-Abstrich, die Menschen normalerweise nur dann machen lassen, wenn sie bereits Symptome haben – oder zumindest nahen Kontakt mit einem Infizierten hatten.
Da die Blutproben unabhängig von der Antikörperstudie genommen wurden, lässt sich das Infektionsgeschehen auch später noch bis auf seinen Anfang zurückverfolgen. Die Forschenden messen selbst Proben aus dem Jahr 2019, um sicherzugehen, dass ihr Test nicht positiv auf Antikörper gegen andere Coronaviren anschlägt und so das Ergebnis verfälscht.
Die zweite Welle schlägt richtig zu
Nachdem Coronavirusproteine aus Laboren rund um den Globus in Zürich eingetroffen sind, beginnt das Team am USZ mit den eigentlichen Antikörpertests. Wie sich dabei zeigt, steigt die Zahl der positiven Blutproben im Laufe des März 2020 langsam an und erreicht im April ein Maximum. Zu dem Zeitpunkt haben demnach rund 1,5 Prozent der Bevölkerung im Grossraum Zürich Kontakt mit dem Virus gehabt. Dann fällt die Zahl wieder bis auf 0,7 Prozent im Juli. Die Antikörper gegen das Coronavirus lassen sich lediglich um die 100 Tage lang im Blut nachweisen.
«Dass die Durchseuchung der Bevölkerung während der ersten Welle nur so gering war, hat uns alle überrascht», sagt Adriano Aguzzi. In anderen Regionen der Schweiz war sie weiteren Studien zufolge höher: Im Kanton Genf etwa waren Anfang Mai Antikörper bei knapp zehn Prozent aller Personen nachweisbar. «Der Lockdown hat demnach erfolgreich eine schweizweite Ausbreitung des Virus verhindert.»
Ab November 2020 sieht die Situation dann ganz anders aus: Die positiv getesteten Blutproben im Kanton Zürich erreichen Mitte Dezember rund 6 Prozent. «Die zweite Welle hat massiv eingeschlagen», sagt Aguzzi. Im Kanton Genf liegt die Zahl aber auch hier mit 21 Prozent wieder höher. Allgemein zeige die Studie Folgendes: «Die wahre Durchseuchung der Bevölkerung mit dem Coronavirus ist gut dreimal so hoch, wie die offiziellen Tests aus Abstrichen es vermuten lassen.»
Inzwischen hat das Team um Adriano Aguzzi über 80 000 Blutproben auf Antikörper gegen das Coronavirus getestet. Die Studie wird noch mindestens zwei Jahre weiterlaufen. Und das Versprechen steht: Wenn der Mediziner dafür neues Nukleokapsid-Protein benötigt, ist das PSI erneut zur Stelle.
Text: Brigitte Osterath
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