Der Chemiker Theo Jenk ist Forscher im Labor für Umweltchemie am Paul Scherrer Institut PSI. Er nimmt regelmässig an Expeditionen auf Gletscher teil, um dort Eisbohrkerne zu entnehmen und später zu analysieren. Im Interview erzählt er von seiner Faszination für Eis als jahrtausendealtes Klima- und Umweltarchiv.
Herr Jenk, was ist ein Eisbohrkern und wie betreibt man damit Forschung?
Theo Jenk: Eisbohrkerne entnehmen wir entweder auf alpinen Gletschern oder aus dem Eis der Polargebiete. Wir verwenden speziell entwickelte Kernbohrer: hohle Bohrer, die an einem windenbefestigten Kabel hängen und mit denen wir so durchs Eis vordringen können. Unser Bohrer ist so dimensioniert, dass wir zylinderförmige Eisstücke von acht Zentimetern Durchmesser erhalten. Wir gehen mit dem Bohrer immer wieder in dasselbe Bohrloch und holen stückweise Eiszylinder nach oben. Aufgrund unserer Transportkisten bohren wir Zylinder von jeweils 70 Zentimeter Länge. Dazu notieren wir natürlich die Reihenfolge, denn zusammengesetzt ergibt sich so der komplette Eiskern. Wenn möglich reicht dieser bis ganz nach unten auf das Felsbett. Das können bei hochalpinen Gletschern durchaus um die hundert Meter oder mehr sein. Ganz unten am Felsbett liegt das älteste Eis aus der Entstehungszeit des Gletschers, darüber folgen Schicht für Schicht jeweils die jüngeren Ablagerungen. Genau dies ist die Stärke, die Bedeutung und auch Faszination des natürlichen Archivs Gletscher. Es erlaubt uns eine Zeitreise in die Vergangenheit.
Wie lesen Sie dieses Archiv aus?
Meine Spezialgebiete sind die Datierung von Eis unter anderem mittels radiometrischer Methoden wie der Radiokarbon-Methode sowie die Massenspektrometrie, mit denen wir beispielsweise die Spurenelemente in den Eisbohrkernen bestimmen. Grundsätzlich untersuchen Eiskernforschende unter anderem die Isotopenzusammensetzung des Eises selbst, seine chemischen Verunreinigungen oder die darin eingelagerten Partikel. Viele Partikel, die zunächst in die Atmosphäre ausgestossen werden, werden durch den Niederschlag bald wieder gebunden und lagern sich entsprechend im Eis der jeweiligen Region ab. Dadurch verraten uns alpine Eiskerne beispielsweise, wann auf welchem Subkontinent welches Getreide angebaut oder in welchem Umfang ein bestimmtes Metall verarbeitet wurde – und das bis in eine Vergangenheit von 10 000 Jahre oder sogar länger.
Sie untersuchen also die Eisbohrkerne, die Sie auch selber auf Expeditionen gesammelt haben?
Ja, für mich und einige andere in diesem Forschungsgebiet geht das Hand in Hand. Ich arbeite seit 2012 als Chemiker im Labor für Umweltchemie am PSI. Schätzungsweise bin ich ein Viertel des Jahres damit beschäftigt, Expeditionen zu planen und durchzuführen. Ich habe schon an rund fünfzehn Expeditionen sowohl auf hochalpinen Gletschern als auch in Grönland teilgenommen, einige davon habe ich geleitet und bei vielen habe ich die Bohrkerne selbst entnommen. Meine Motivation ist es, von diesen grossartigen Archiven im Eis mehr über unser Klima und unsere Vergangenheit zu lernen und diese zu erhalten, damit die Untersuchungen, die mich selbst all diese Jahre fasziniert haben, auch von der nächsten Generation Forschenden weitergeführt werden können.
Mit «erhalten» sprechen Sie das Projekt Ice Memory an, an dem das PSI stark beteiligt ist?
Richtig. Ice Memory hat zum Ziel, weltweit von so vielen geeigneten Gletschern wie möglich Eisbohrkerne zu entnehmen und sicher in der Antarktis einzulagern – bevor diese Gletscher aufgrund des Klimawandels als Archive wertlos werden oder in einzelnen Fällen sogar ganz verschwinden. Bisher haben für Ice Memory weltweit sechs Bohrungen stattgefunden, drei davon hat das PSI durchgeführt: 2018 am Belucha in Sibirien, 2020 am Grand Combin in der Schweiz und 2021 etwas weiter östlich am Colle Gnifetti an der schweizerisch-italienischen Grenze.
Sie haben es schon angesprochen: Die Gletscher schmelzen. Für Ice Memory liefern Sie sich also ein Wettrennen gegen die Zeit.
2020 am Grand Combin wollten wir bis runter aufs Felsbett in 80 Meter Tiefe bohren, aber mussten nach tagelangen Versuchen aufgeben. Schmelzwasser von an der Oberfläche geschmolzenem Schnee war durch den Firn gesickert und hatte am Übergang zum Eis eine Schneematsch-Schicht mit extrem hohem Wassergehalt gebildet. Für diese abnormale Schichtung war unser Bohrer nicht ausgelegt und blieb stecken. Schmelzprozesse sogar auf einer Höhe von über 4000 Metern sind eine dramatische Folge der derzeitigen Klimaerwärmung, welche uns überrascht und schockiert hat. Dies hatten wir in dieser Höhe noch nie zuvor beobachtet.
Und eine Expedition zum Kilimandscharo ist leider aus einem ganz anderen Grund gescheitert.
Die war für diesen September geplant. Technisch waren wir bestens vorbereitet. Wir wollten auf 5800 Meter aufsteigen und rund zwei Wochen lang Bohrungen durchführen. Wir hatten auch berechtigte Hoffnung, dass sich das Problem, das wir am Grand Combin gehabt hatten, nicht wiederholen würde, denn am Kilimandscharo sind die Bedingungen andere. Wenn es bei uns in den Alpen zu warm wird, schmilzt die Gletscheroberfläche zu Wasser. Am Kilimandscharo dagegen hat man bisher nie solches Schmelzwasser beobachtet, aufgrund der hohen Sonneneinstrahlung und geringen Luftfeuchtigkeit verdampfen dort der Schnee und das Eis direkt in die Luft. Gescheitert ist die Expedition dann leider sehr kurzfristig aufgrund von Bürokratie: Wir hatten uns mit grosser Vorlaufzeit um die Genehmigungen bemüht, konnten sie jedoch von den tansanischen Behörden bis zum Schluss nicht erhalten. Wir waren schon vor Ort und mussten schliesslich unverrichteter Dinge abreisen.
Wird es einen weiteren Anlauf geben, diese Expedition nachzuholen?
Wir würden es auf jeden Fall gerne noch einmal versuchen. Der Kilimandscharo-Gletscher ist für das lokale und regionale Ökosystem extrem wichtig, denn er ist ein essenzieller Teil des jährlichen Wasserkreislaufs. Über die letzten rund 150 Jahre hat er bereits etwa 90 Prozent seines Volumens verloren und man geht davon aus, dass er in den kommenden Jahrzehnten aufgrund des Klimawandels ganz verschwinden wird. Dieses letzte afrikanische Eisarchiv, das sich jetzt nicht mehr lange wird bergen lassen, ist daher für die Forschungsgemeinschaft einmalig und wichtig.
Das klingt nach Herausforderungen an allen Ecken und Enden.
Das Problem, das wir am Grand Combin hatten, droht tatsächlich bei fast allen Gletschern. Wir können dem mit einem anderen Bohrsystem begegnen: Einem thermischen Bohrer, mit dem wir auch unter diesen erschwerten Bedingungen noch durch das Eis gekommen wären. Wir hatten ihn 2020 nicht dabei, weil wir nicht ansatzweise mit dieser schnellen Veränderung des Eises gerechnet hatten.
Diesen Bohrer werden Sie also zukünftig mehr einsetzen?
Mit der voranschreitenden Klimaerwärmung werden wir in der Tat den thermischen Bohrer immer öfter nutzen. Allerdings lösen wir damit mitnichten alle unsere Probleme. Denn wenn das Schmelzwasser durch die Eisschichten sickert, werden die eingelagerten Stoffe mit- und schlussendlich ausgeschwemmt. Das Archiv wird dadurch komplett verfälscht und nicht mehr nutzbar. Zweitens führt der Klimawandel dazu, dass der Schnee, der sich im Winter oben neu absetzt, möglicherweise den folgenden Sommer nicht überlebt. Das Eisarchiv enthält also oben keine neuen Updates mehr, eventuell schmelzen sogar Schichten vorangehender Jahre weg. Wir kennen dann das Alter der tatsächlichen Gletscheroberfläche zur Zeit der Bohrung nicht mehr und das führt auch zu Problemen bei der Datierung der tieferen Schichten. Wir sind also sehr motiviert, gerade jetzt noch so viele Eisbohrkerne wie möglich zu sammeln und sicher aufzubewahren.
Interview: Paul Scherrer Institut/Laura Hennemann
Weitere Informationen
- Webseite der Initiative Ice Memory
- „Es wurde höchste Zeit“: Ein Interview mit Margit Schwikowski, Leiterin des Labors für Umweltchemie am Paul Scherrer Institut PSI
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