Hollywood im Würenlinger Wald

Mit dem Röntgenlaser SwissFEL wollen Forschende am PSI Filme von Biomolekülen in Aktion produzieren. So lässt sich aufzeigen, wie unser Auge funktioniert oder wie neue Medikamente wirken.

Die Gründer des Filmstudios: Luc Patthey und Hans Braun (Foto: Scanderbeg Sauer Photography)

Luc Patthey steht neben einer komplizierten Anordnung von optischen Linsen, Messgeräten, unzähligen Kabeln und einem dünnen Stahlrohr. Wir sind hier in Hollywood, wir machen Filme, erklärt der Physiker schmunzelnd: Unsere Filmstars sind Moleküle und Materialien. Luc Patthey war als Projektleiter zuständig für die optischen Teile, die Experimente und das Forschungsprogramm des Freie-Elektronen-Röntgenlasers SwissFEL. Er ist begeistert von diesem aussergewöhnlichen Filmstudio: Wir verfolgen mit extrem kurzer Belichtungszeit, was auf der Ebene der Atome geschieht. Möglich machen dies intensive, ultrakurze Röntgenlaserpulse, die durch das Stahlrohr schiessen und Blitzlichter auf die atomaren Vorgänge werfen.

Mit seinem Team produziert Luc Patthey Filme aus diesem faszinierenden Mikrokosmos. Sie sollen dazu beitragen, bessere Medikamente, umweltschonende Energietechnologien oder neue Materialien für die Informationstechnologie herzustellen. Der SwissFEL ist eine gewaltige Maschine, sagt der Projektleiter und zeigt, was hinter den Kulissen steckt: Bevor die Röntgenpulse zu den beiden Messstationen gelangen, durchlaufen sie in einem Gang mehrere Behälter mit Spiegeln, die sie exakt auf die richtige Bahn lenken.

Unsere Filmstars sind Moleküle und Materialien.
Luc Patthey, Projektleiter im SwissFEL-Projekt, PSI

Wie präzise deren Oberflächen im Vergleich zu einem normalen Spiegel poliert wurden, veranschaulicht Luc Patthey mit einem Vergleich: Wäre die Schweiz so eben wie diese Spiegeloberflächen, wären die Alpen zwischen St. Gallen und Genf gerade mal einige Millimeter hoch.

Ein gewagtes Unterfangen

Höchste Präzision steckt im gesamten SwissFEL-Gebäude. Im 740 Meter langen Tunnel, der sich unter einem Erdwall durch den Würenlinger Wald zieht, entstehen die Röntgenlaserpulse. Hier werden Elektronen auf beinahe Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und auf einen Slalomkurs geschickt, bis sie das gewünschte Röntgenlicht abstrahlen – intensive Blitze mit einer Dauer von nur 1 bis 100 Femtosekunden (tausendstel Billionstelsekunden). Verantwortlich für den Beschleuniger ist Hans Braun. Er erinnert sich, wie das gewagte Unternehmen seinen Anfang nahm: Als wir 2008 mit den Vorarbeiten zum SwissFEL starteten, war noch unklar, ob Freie-Elektronen-Röntgenlaser überhaupt funktionieren. Erst 2009 nahm die weltweit erste Anlage im kalifornischen Stanford ihren Betrieb auf. Mit dem SwissFEL konnten die Physiker zeigen, dass sich auch mit einem viel kleineren und günstigeren Beschleuniger als dem in Kalifornien die notwendige Strahlqualität erreichen lässt. Dabei kamen ihnen die Erfahrungen zugute, die sie mit der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS am PSI gemacht hatten. Schon damit liessen sich ultrakurze Pulse erzeugen, allerdings mit deutlich geringerer Intensität. Das waren heroische Experimente, erzählt Rafael Abela, der sowohl den Aufbau der SLS wie auch des SwissFEL betreute: Damals brauchten wir zwei Wochen für Messungen, die wir später an der Anlage in Stanford in 10 Minuten erledigten.

Zuschauen, wie das Sehen beginnt

Eine nächtliche Autoverfolgungsjagd ist für das Auge eine Herausforderung. Laufend muss das Rhodopsin-Protein im Auge sich an die schwachen Lichtverhältnisse anpassen. Im Inneren des Proteins steckt das Retinal-Molekül. Fällt Licht darauf, streckt es sich und stösst damit die Anpassung an. Unser Verfolger jedoch hat Pech – sein Rhodopsin ist falsch geformt, er ist nachtblind. (Grafik: Nina Sörés/WirzFraefelPaal Productions AG)

Rund 275 Millionen Franken kostete der SwissFEL – den Grossteil finanzierte der Bund, 30 Millionen Franken steuerte der Kanton Aargau aus seinem Swisslos-Fonds bei. 275 Millionen entsprechen in etwa dem Produktionsbudget des Disney-Films Pirates of the Caribbean – Am Ende der Welt mit Johnny Depp in der Hauptrolle. In den am SwissFEL geplanten Filmen wird einer der Starschauspieler Rhodopsin heissen. Dieses Protein kann Licht einfangen und es in ein chemisches Signal umwandeln. Diese Fähigkeit setzt es im menschlichen Auge ein, wo es als Lichtsensor dient und uns ermöglicht, auch bei schwachem Licht zu sehen. Im Inneren des Rhodopsinmoleküls steckt ein Retinal, eine Form von Vitamin A. Dieses längliche Molekül hat im Dunkeln eine geknickte Form; fällt aber Licht darauf, streckt es sich und bringt damit auch das ganze Rhodopsin dazu, seine Form zu verändern. Beim Menschen ist diese Veränderung ein Zeichen, dass Licht im Auge angekommen ist. Nervenbahnen leiten die Information zum Gehirn weiter, wo schliesslich der Seheindruck entsteht. Die Streckreaktion des Retinals ist eine der schnellsten in der Biologie und findet innerhalb von nur 200 bis 500 Femtosekunden statt. Mit dem Röntgenlaser wollen die Forschenden herausfinden, wie genau diese Streckung die Rhodopsine verändert und welche Rolle dabei die direkte Umgebung des Retinal-Moleküls im Inneren der Rhodopsine spielt. Mit dem SwissFEL können wir uns den primären Prozess des Sehvorgangs anschauen, sagt Gebhard Schertler, Leiter des Forschungsbereichs Biologie und Chemie am PSI und Professor für Strukturbiologie an der ETH Zürich: Für jemanden wie mich, der seit 40 Jahren auf dem Gebiet arbeitet, ist dies ausserordentlich faszinierend. Deshalb wechselte Gebhard Schertler aus dem englischen Cambridge, wo er an einem der weltweit renommiertesten Forschungsinstitute tätig war, in die Schweiz. Als Forschungsleiter entscheidet er, welche Experimente aus seinem Bereich für den SwissFEL in Frage kommen. Wenn ich das Drehbuch gelesen habe, weiss ich, ob ich diesen Film will oder nicht. Im Theater wäre ich vielleicht der künstlerische Direktor, erklärt er seine Rolle. Bei der Auswahl will sich Schertler in Zukunft auf Filme konzentrieren, in denen Moleküle die Hauptrolle spielen, die für die Wirkung von Medikamenten wichtig sind.

Moleküle in Aktion

Jörg Standfuss, der ebenfalls von Cambridge ans PSI umgezogen ist, hat neue Technologien für die Biologie-Experimente entwickelt und erklärt den Ablauf: Ausgangsmaterial sind winzige, purpurfarbene Kristalle, in denen viele Exemplare des Rhodopsin-Proteins in einem geordneten Zustand dicht gepackt sind. Die Kristalle werden dann einzeln in eine der Experimentierkammern des SwissFEL geschickt. Dort trifft der Röntgenblitz den Kristall und beleuchtet die Szene, die von der Kamera festgehalten wird, und erzeugt ein einzelnes Standbild. Weil der intensive Röntgenpuls den Kristall explodieren lässt, müssen immer neue Proben folgen. Dabei ist das Experiment so eingerichtet, dass in den aufeinanderfolgenden Kristallen das Retinal im Rhodopsin mit seiner Streckung verschieden weit vorangekommen ist. Die einzelnen Bilder zeigen damit verschiedene Phasen der Bewegung und lassen sich so zu einem Film zusammensetzen. Man braucht sehr viele, identische Kristalle, sagt Jörg Standfuss: Normalerweise friert man Proteine für Messungen ein. Aber jemand, der in einem Eisblock sitzt, kann sich nicht bewegen. Deshalb ist es wichtig, dass das Experiment bei Raumtemperatur stattfindet.

Jungfrau folgt auf Pilatus

Der Kameramann: Bernd Schmitt (Foto: Scanderbeg Sauer Photography)

Die Hochgeschwindigkeitskamera für die Röntgenstrahlung ist ein rund 70 Kilogramm schwerer Detektor. Die Konstruktion solcher Instrumente hat am PSI Tradition. Ein für das Teilchenphysiklabor CERN gebauter Detektor war am Nachweis des Higs-Teilchens beteiligt. Darauf basierend entwickelten die PSI-Physiker Detektoren für die SLS, die heute von der Firma Dectris in Baden hergestellt und weltweit an Synchrotron-Anlagen eingesetzt werden. Am Synchrotron treffen die Teilchen der Röntgenstrahlung zwar in rascher Folge, aber doch eines nach dem anderen, beim Detektor ein, erklärt Bernd Schmitt, Leiter der Detektorgruppe am PSI: Man kann diese Photonen deshalb einfach zählen. Am SwissFEL dagegen ist der Röntgenpuls so intensiv und kurz, dass dies nicht mehr funktioniert. Wir müssen die gesamte Ladung, welche die Photonen in unserem Detektor deponieren, messen und dann deren Anzahl berechnen.

Die Kamera, die wir für den SwissFEL entwickelt haben, heisst «Jungfrau», andere heissen «Mythen» und «Pilatus». So weiss die ganze Welt, woher sie stammen.
Bernd Schmitt, Leiter der Detektorentwicklung, PSI

Die Kamera für den SwissFEL tauften Bernd Schmitt und sein Team auf den Namen Jungfrau, nachdem sie für die SLS bereits Mythen und Pilatus entwickelt hatten. So weiss die ganze Welt, woher die Detektoren stammen, meint der Physiker lachend. Für die Aufzeichnung der Filmaufnahmen ist Leonardo Sala verantwortlich. Die gewaltigen Datenmengen sind hier eine grosse Herausforderung, sagt er. Denn mit jedem Experiment fallen einige Terabytes an Daten an. Eine Datenflut voller verborgener Zusammenhänge, die erst mithilfe komplexer Methoden ihre Geheimnisse offenbart.

Von der Forschung zum neuen Medikament

Der Fachmann für Spezialeffekte: Jörg Standfuss (Foto: Scanderbeg Sauer Photography)

Zum Zielpublikum der SwissFEL-Filme gehört auch die Pharma-Forschung. Denn mithilfe der Erkenntnisse über die Dynamik von Biomolekülen lassen sich neue Medikamente erforschen. Davon sind wir überzeugt, sagt Gebhard Schertler. Eine Überzeugung, die erst ihren Weg in die Umsetzung finden muss. Deshalb haben der Strukturbiologe Gebhard Schertler, der Physiker Rafael Abela und der ehemalige Pharma-Manager Michael Hennig in unmittelbarer Nachbarschaft zum PSI ein Unternehmen gegründet. Seit 2015 untersucht das Start-up leadXpro sogenannte Membranproteine, zu denen auch die oben genannten Rhodopsine gehören. An diese können medizinische Wirkstoffe gezielt andocken, die Krankheiten wie Krebs, Infektionen, Entzündungen oder Netzhauterkrankungen bekämpfen. Je besser ein Wirkstoffmolekül in die Bindungstasche eines Membranproteins passt, umso schneller und effektiver ist das Medikament und umso weniger Nebenwirkungen hat es. Der moderne Zugang in der Medikamentenforschung setzt voraus, dass man die Strukturen dieser Membranproteine und ihrer Verbindungen mit potenziellen neuen Medikamenten kennt. Der SwissFEL wird hier neue Möglichkeiten eröffnen, weil er auch die Bewegung der Membranproteine sichtbar machen wird, sagt Rafael Abela, der am PSI wesentlich den Bau des SwissFEL vorangetrieben hat. Bereits konnte leadXpro Verträge mit mehreren grossen Pharma-Unternehmen abschliessen und auch eigene Projekte in der Krebs- und Antibiotikaforschung voranbringen. Schon zwei Jahre nach der Gründung hat sich die Firma sehr gut entwickelt und profitiert sowohl von den Talenten des Wissenschaftsstandorts Schweiz als auch von den Gross- forschungsanlagen des PSI sowie von der Elektronenmikroskopie an der Universität Basel, sagt leadXpro-CEO Michael Hennig.

Text: Barbara Vonarburg