Netto-Null: Die Rohstoffe mitrechnen

Bis 2050 will die Schweiz klimaneutral sein. Ein neues Rechenmodell des PSI veranschaulicht, wie sich das auf den Bedarf an kritischen Rohstoffen und die damit verbundenen Umweltfolgen auswirkt.

Neue erneuerbare Energien im Kampf gegen den Klimawandel. Ihre Wahl beeinflusst nicht nur den CO₂-Ausstoss, sondern auch den Bedarf an kritischen Rohstoffen und die potenziellen Umweltfolgen. © AdobeStock

Der Klimawandel gehört zu den grossen Herausforderungen unserer Zeit. Auch die Schweiz will bis 2050 klimaneutral werden. Das bedeutet, dass ab diesem Zeitpunkt nicht mehr Treibhausgase emittiert werden dürfen, als auf natürliche oder künstliche Weise gespeichert werden können. Dazu ist es nötig, die Energieerzeugung und Energienutzung in der Schweiz neu zu denken – weg von fossilen Brennstoffen, hin zu klimaneutralen Energieträgern. So weit, so klar. Weniger klar ist allerdings, wie die verschiedenen, zur Verfügung stehenden Technologien künftig eingesetzt werden, wie sich die Nachfrage nach teils knappen Rohstoffen entwickelt und welche Umweltschäden durch deren Abbau und Einsatz entstehen können. 

Am Paul Scherrer Institut PSI hat nun eine Forschungsgruppe am Labor für Energiesystemanalysen genau dies untersucht. In ihrer Arbeit zeigen die Forschenden unter anderem, wie die Wahl verschiedener Technologien – zum Beispiel Lithium-basierte Batterien oder Lithium-freie Alternativen – sowie Unsicherheiten in der Menge der jeweils benötigten Mineralien sich über den Zeitrahmen des Übergangs zur Klimaneutralität auswirken. Das Fazit: Für ein klimaneutrales Schweizer Energiesystem wird der Verbrauch an kritischen Rohstoffen deutlich zunehmen. Mit technologischem Fortschritt ändert sich jedoch auch die Nachfrage sowie der Einfluss auf die Umwelt. All diese Faktoren sind nebst dem CO₂-Ausstoss entscheidend, um realistisch und nachhaltig das Netto-Null-Ziel zu erreichen. Über ihre Ergebnisse berichten die Forschenden im Fachjournal Resources, Conservation and Recycling.

Alvaro Jose Hahn Menacho hat mit einem Computermodell untersucht, welchen Einfluss der Übergang des Schweizer Energiesystems zur Klimaneutralität auf den Bedarf an kritischen Rohstoffen und auf die Umwelt ausüben könnte. © Paul Scherrer Institut PSI/Mahir Dzambegovic

Kein Königsweg

«Es gibt keinen Königsweg zur Klimaneutralität», sagt Doktorand und Hauptautor der Studie Alvaro Jose Hahn Menacho. Das heisst: Sogenannte Energiesystemmodelle können zwar einen kostenoptimalen Weg zur Klimaneutralität aufzeigen, sie sagen einem aber nicht, welche eventuellen Rohstoffengpässe und Umweltfolgen dieser Weg beinhaltet. Deshalb haben Hahn Menacho und seine Kollegen eine Methode entwickelt, welche das Energiesystemmodell mit einer Lebenszyklusanalyse koppelt. «In der Lebenszyklusanalyse wird im Detail berücksichtigt, welche Mengen an Rohstoffen für bestimmte Technologien benötigt werden, welche möglichen Umweltschäden bei deren Gewinnung und Verarbeitung auftreten können und auch, wie sich der technologische Fortschritt auswirkt», erklärt der Wissenschaftler. Sowohl beim Materialverbrauch als auch beim CO2-Ausstoss wird dabei die gesamte Lieferkette berücksichtigt. 

Veranschaulicht am Beispiel Batterien: Derzeit werden zur Zwischenspeicherung von elektrischer Energie meist die bewährten Lithium-Ionen-Batterien verwendet. Für mehr Speicherkapazität wird auch die Nachfrage nach Lithium stark ansteigen, was den Druck auf umweltsensible Abbaugebiete erhöhen und möglicherweise zu Wasserknappheit, Landdegradation und einer Belastung des Ökosystems führen könnte.

Allerdings könnte die Menge an tatsächlich benötigtem Lithium in den kommenden Jahren auch deutlich von dieser Vorhersage abweichen, wenn technische Fortschritte die Batterien effizienter machen oder wenn andere Batterietechnologien wie zum Beispiel Vanadium-Redox-Akkumulatoren vermehrt eingesetzt würden. Je nach verwendeten kritischen Rohstoffen ändern sich dann auch die möglichen Umweltfolgen, die durch die Gewinnung und Verarbeitung der Mineralien entstehen. 

Ähnliches gilt für Stoffe wie Neodym, das in Magneten für Windräder gebraucht wird, oder Iridium, eines der seltensten Elemente in der Erdkruste, das in Elektroden für die Wasserelektrolyse zur Gewinnung von grünem Wasserstoff zum Einsatz kommt. Auch hier wird der Bedarf in den nächsten Jahren deutlich ansteigen, kann durch technologische Neuerungen jedoch entschärft werden, was wiederum Einfluss auf die Umweltbelastung hat. 

Simulation von Unsicherheiten

«Die Unsicherheiten und Verflechtungen, die all das beinhalten, werden in den Berechnungen oft übersehen», sagt Hahn Menacho. Die PSI-Forschenden tragen den Unsicherheiten Rechnung, indem sie für ihre Methode ein Monte-Carlo-Verfahren verwenden. Dieses wird in der Wissenschaft häufig eingesetzt, um komplexe Systeme mit vielen Variablen zu analysieren. Das Programm rechnet Tausende von Parameterkombinationen durch – darunter die benötigte Materialmenge, die Batterieeffizienz und die Wahl der Technologie – und simuliert deren Einfluss auf den gesamten Projektionszeitraum des Energiemodells bis hin zur Klimaneutralität.

In ihren Berechnungen fanden die Forschenden zum Teil Überraschendes. Je nach Entwicklung der Batterietechnologien kann zum Beispiel die Lithium-Nachfrage in bestimmten Szenarien nach einigen Jahren gar stagnieren – dafür geht dann aber konsequenterweise die Vanadium-Nachfrage steil nach oben. «Wenn man solche Effekte nicht vorher einplant, könnte es zu unerwarteten Engpässen kommen, welche den Übergang des Schweizer Energiesystems zur Klimaneutralität erschweren», sagt Hahn Menacho. 

Auch andere Länder können vom neuen Rechenmodell profitieren, da man es problemlos an unterschiedliche geografische Gegebenheiten anpassen kann. In Zukunft will Hahn Menacho es zudem dahingehend erweitern, dass auch die Angebotsseite integriert wird, also die Gewinnung und Aufbereitung der Materialien.

Alvaro Jose Hahn Menacho
Center for Nuclear Engineering and Sciences
Center for Energy and Environmental Sciences
Paul Scherrer Institut PSI

+41 56 310 37 16
alvaro.hahn-menacho@psi.ch
[Englisch]

The material-energy nexus in net-zero transition scenarios: exploring environmental trade-offs and uncertainties
Alvaro J. Hahn Menacho, Romain Sacchi, Christian Bauer, Evangelos Panos, Russell McKenna, Peter Burgherr
Resources, Conservation and Recycling, Vol. 218, 2025