Adrian Wanner will die Architektur des Gehirns entschlüsseln. Das soll es möglich machen, neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer besser zu verstehen.
Wer kennt das nicht: Man steht in der Küche und weiss plötzlich nicht mehr, warum man eigentlich dorthin gegangen ist. Schuld ist das Arbeitsgedächtnis: Es soll Informationen bis über mehrere Minuten lang für uns präsent halten. «Wenn es mal nicht richtig funktioniert, kann das zu Situationen führen, in denen man vergessen hat, was man gerade tun wollte», erklärt Adrian Wanner, Neurobiologe im Labor für Biologie im Nanobereich am Zentrum für Life Sciences des PSI.
Im Alltag sind solche Situationen vielleicht unangenehm, aber doch eher harmlos. Bei einigen Menschen können sie aber auf einen ernsten Hintergrund hinweisen, erklärt Adrian Wanner: «Bei Alzheimer ist das Arbeitsgedächtnis oft als Erstes beeinträchtigt. Lange bevor pathologische Veränderungen wie Proteinablagerungen im Gehirn prominent sichtbar werden, leiden Betroffene unter dieser Form des Vergessens.» Das Arbeitsgedächtnis und seinen Aufbau im Detail zu begreifen, kann somit helfen, auch die bislang unheilbare Krankheit Alzheimer besser zu verstehen.
Aktivitätskarten und Schaltpläne
Um nachzuvollziehen, was genau passiert, wenn Informationen im Arbeitsgedächtnis präsent behalten werden, wendet Wanner zwei Methoden an. «Zuerst erstellen wir Aktivitätskarten von Gehirnzellen», erklärt der Neurobiologe. «In dieser Abbildung leuchten die Nervenzellen farblich auf, die während einer bestimmten Handlung aktiv sind.»
Anschliessend versuchen die Forschenden herauszufinden, wie die einzelnen Nervenzellen in diesem Gebiet miteinander verbunden sind. «Das ist wie ein Schaltplan für einen Computer», sagt Wanner – nur mit biologischen Synapsen statt elektrischen Verbindungen. Für die meisten Gehirnregionen und -funktionen gibt es noch keinen solchen Schaltplan, der die Art und Weise beschreibt, wie Informationen verarbeitet werden: «Geht das direkt von A nach B zu C oder gibt es dazwischen Kreuzverbindungen oder Feedbackschleifen, die wieder einen Schritt zurückgehen?»
Welche Wege das Hirn einschlägt, wenn es Informationen verarbeitet und dann speichert, dazu gibt es verschiedene Theorien, die oft miteinander konkurrieren. Mit empirischen Daten will Adrian Wanner nun feststellen, welches Modell die Realität am besten beschreibt: Er will beobachten, welche Nervenzellen während der Aufgaben aktiv sind, für die das Arbeitsgedächtnis wichtig ist. Anschliessend stellt er die Verknüpfungen zwischen diesen Nervenzellen dar und erstellt so einen detaillierten Schaltplan. «Dann können wir genau nachverfolgen, was im Gehirn gerade passiert.»
Das Arbeitsgedächtnis bei der Arbeit
Für seine Forschung arbeitet Adrian Wanner mit Mäusen. «Ihr Gehirn ähnelt in Aufbau und Funktion dem des Menschen», erklärt er. «Deshalb können sie auch Formen von Demenz entwickeln und wir können untersuchen, wie sich gesunde von kranken Tieren unterscheiden.»
Um das Arbeitsgedächtnis einer Maus zu untersuchen, stellt ihr der Neurobiologe eine Aufgabe, bei der sich die Maus Informationen für einige Sekunden merken muss. Zuerst lernt sie, sich in einer virtuellen Umgebung zu bewegen – ähnlich einem Computerspiel. Das Tier blickt dabei auf einen Bildschirm und rennt einen virtuellen Korridor entlang. Am Anfang des Korridors bekommt die Maus ein bestimmtes Muster zu sehen, beispielsweise ein Schachbrettmuster. Dieses Muster muss sie sich merken.
Nach einigen Metern verzweigt sich der Korridor in einen linken und einen rechten Gang. Wenn die Maus dort anlangt, wird in jedem Gang wiederum ein Muster sichtbar, zum Beispiel rechts ein Linien- und links ein Schachbrettmuster. Jetzt muss die Maus sich erinnern: Aha, da war doch ebenfalls ein Schachbrettmuster am Anfang des Korridors. Sie biegt an der virtuellen Verzweigung links ab und erhält eine kleine reale Belohnung in Form von Fressen. «Genau während dieser Zeitspanne, in der die Maus das Muster nicht mehr sieht und den Korridor entlangläuft, muss sie die Information präsent halten – ihr Arbeitsgedächtnis ist aktiv.»
Während die Maus dieses Gedächtnisspiel spielt, fertigen Wanner und sein Team Bilder der Aktivität in ihrem Gehirn an. Vergleichen sie diese mit den Schaltplänen des Gehirns, so können sie feststellen, nach welchen Regeln die Nervenzellen verknüpft sind, um die Information im Arbeitsgedächtnis zu halten. «Tatsächlich unterscheidet sich die Gehirnaktivität je nach Muster, das die Maus zu sehen bekommt: Beim Schachbrettmuster werden andere Zellen in einer anderen Reihenfolge aktiv als beim Linienmuster.»
Der Blick ins Gehirn
Um möglichst exakte Aussagen darüber zu machen, welche Nervenzellen miteinander verknüpft sind, müssen die Forschenden einen hochauflösenden Schaltplan vom Gehirn anfertigen. «In einem Kubikmillimeter Gehirn befinden sich etwa 100 000 Nervenzellen, die entlang von 4 Kilometer ‘Nervenkabel’ über etwa 700 Millionen Synapsen miteinander verknüpft sind», erläutert Wanner. Die Zellkörper der Neuronen sind etwa 40 Mikrometer gross und die Synapsen circa einen halben Mikrometer. Dabei entspricht ein Mikrometer einem tausendstel Millimeter.
All diese winzigen und komplexen Gebilde dreidimensional und hochauflösend abzubilden, ist eine grosse experimentelle Herausforderung. Zwar erzielt ein Elektronenmikroskop die beste Auflösung, aber die Elektronen dringen dabei nicht tief genug ins Gewebe ein, sodass sich damit höchstens die Oberfläche von Proben abbilden lässt.
Wanner und sein Team beobachten deshalb extrem dünne Schnitte des Gehirns: Ein automatisiertes Gerät namens Mikrotom schneidet mit einem Diamantmesser Schicht um Schicht durch den Gewebeblock und ein Elektronenmikroskop fertigt von den Scheiben jeweils ein Bild an. Allerdings sind die Scheiben nur 30 bis 40 Nanometer dick, das ist weniger als ein Tausendstel der Dicke eines menschlichen Haars. Solche hauchdünnen Scheiben sind extrem schwierig zu handhaben: Sie knicken, falten sich oder brechen.
Solche Risse und Falten machen die anschliessende Rekonstruktion des Schaltplans sehr aufwendig. Wanner und sein Team haben deshalb mit einem Hersteller für Elektronenmikroskope ein Gerät entwickelt, das auch mit dickeren Scheiben funktioniert: «Unsere Scheiben sind etwa zehnmal dicker als im klassischen Verfahren und dadurch weniger fragil.»
Um die “dicken” Scheiben trotzdem mit hoher Auflösung abbilden zu können, poliert ein Ionenstrahl nach und nach dünne Schichten weg. Nach jeder Schicht wird wieder ein neues Bild aufgenommen, bis die ganze dicke Scheibe wegpoliert und abgebildet ist. Alle Einzelbilder werden schliesslich zu einem hochauflösenden 3-D-Bild kombiniert.

Adrian Wanner hat an der ETH Zürich Interdisziplinäre Naturwissenschaften studiert mit Vertiefung in Theoretischer Physik und Neuroinformatik. Danach promovierte er in Neurobiologie am Friedrich Miescher Institute for Biomedical Research in Basel und gründete das Unternehmen ariadne.ai: Es ist spezialisiert auf die Analyse biomedizinischer Bilder. Adrian Wanner forschte zudem als CV Starr Fellow an der Princeton University in den USA. Seit September 2022 leitet er die Gruppe für Strukturelle Neurobiologie am PSI (www.structuralneurobiology.ch).
Pläne für die SLS 2.0
Adrian Wanner will mit neuen Methoden die Aufnahmen weiter verbessern. «Mit Röntgentomografie wäre es rein hypothetisch möglich, ganz auf die Schnitte zu verzichten und komplette Gehirne oder zumindest Teile davon hochauflösend zu untersuchen.» Bei Computerchips statt Gehirnen ist das bereits heute möglich: Hier erzielen Forschende am PSI mit dem Ptychografie-Verfahren an der SLS eine Auflösung von vier Nanometern. «Biologische Proben sind jedoch bei dieser Auflösung den hohen Strahlendosen in der SLS nicht gewachsen und werden dabei zerstört.»
Um die Proben zu schützen, experimentieren Wanner und sein Team mit neuen industriellen Epoxidharzen, die über tausendmal mehr Strahlung ertragen. Bisher sieht es vielversprechend aus. «Das wäre ein absoluter Durchbruch: Man durchleuchtet einfach die ganze Probe und hat keine Probleme mehr mit Rissen oder Falten.»
Am PSI findet der Neurobiologe die perfekte Infrastruktur dafür: «Mit der SLS 2.0 bekommen wir ein noch besseres Werkzeug an die Hand. Das ist auch der Grund, weshalb ich ans PSI gekommen bin: die Technik und das technische Knowhow. Dafür ist das PSI bekannt und das macht es weltweit einzigartig.»