Die Sicherheitsstandards für Kernkraftwerke sind in der westlichen Welt bezüglich Materialauswahl, -einsatz und -überwachung sehr hoch. Dabei sind die Anforderungen je nach Beanspruchung, Sicherheitsprofil und erwarteter Lebensdauer für die einzelnen Komponenten unterschiedlich und müssen sowohl bei Normalbetrieb als auch bei Störfällen erfüllt sein. Manche Teile eines Kernkraftwerkes wie Brennelemente, aber auch Pumpen oder Ventilkörper, sind von Anfang an nur für eine begrenzte Laufzeit konzipiert, während andere, vor allem grosse Komponenten wie der Reaktordruckbehälter, im Prinzip so lange wie das Kernkraftwerk insgesamt halten sollen.
Am PSI wird das Verhalten von langzeitig eingesetzten Teilen untersucht. So interessieren sich die Forschenden für die Bedeutung von Spannungsrisskorrosion in Werkstoffen oder die Auswirkung starker radioaktiver Strahlung, die an Komponenten nach deren Einsatz im Kernkraftwerk oder nach Schadensfällen bestimmt werden kann. Aus den Untersuchungen lassen sich Schlüsse über Alterungs-, Korrosions- oder Schadensmechanismen ziehen.
Dabei unterliegt jedes Material, egal wo es eingebaut ist, mit der Zeit einer Alterung durch kleinste strukturelle Schädigungen. Wie diese aussehen, welchen Mechanismen sie unterliegen und ob aus der Momentaufnahme eine Prognose abgleitet werden kann, ist einer der Forschungsgegenstände der Materialforscher am PSI. Das Ziel der Forschung ist dabei stets, heutige und künftige Kernkraftwerke noch sicherer zu machen. Dazu untersuchen die Forschenden kleinste Proben mit Ausdehnungen von wenigen Nanometern (nano ist eine Vorsilbe, stammt aus dem Griechischen und bezeichnet das Milliardstel einer physikalischen Einheit - so ist ein Nanometer ein milliardstel Meter oder ein millionstel Millimeter).
Druckstempel für Zwerge
Für die mikroskopisch kleinen Proben gibt es zwei Gründe: Zum einen sollen die im Reaktor zu untersuchenden Teile möglichst unbehelligt bleiben, damit sie durch die Untersuchungen nicht an Stabilität verlieren. In diesem Fall sind die Beschädigungen bei der Probenentnahme so klein, dass man die Entnahmestelle ausschleifen kann. Zum anderen müssen die Proben so extrem winzig und dünn sein, damit die Forschenden ihre Untersuchungen mit Ionen – also geladenen Atomen – machen können, die nur eine geringe Eindringtiefe in Materie besitzen.
Grundsätzlich möchten die Wissenschaffenden herausfinden, ob sich eine Materialprobe, die einer Bestrahlung ausgesetzt war, unter Belastung anders verhält, als eine Probe, die nicht radioaktiv bestrahlt worden ist. Bei der von den Materialexperten verwendeten sogenannten Micro- oder Nano-Indentation wird ein vorher genau festgelegtes, spitz zulaufendes Gewicht in das zu untersuchende Material gedrückt und dann gemessen, wie die Diagonalen des Eindrucks ausschauen: Sind sie sehr kurz, ist das Material hart, sind sie breit und tief, dann ist es weich. Alternativ können auch sogenannte Mikro-Pillars eingesetzt werden, auf die mit einem Stempel Druck aufgebracht wird. Diese Mikro-Pillars haben einen Durchmesser von nur 800 Nanometern und sind daher rund 150-mal dünner als ein menschliches Haar. Mit der Methode können die Forscher elektronisch eine definierte Kraft kontrolliert auf die Stempel bringen und gleichzeitig den Weg messen. Auf diese Weise erzeugen die Wissenschaftler Spannungs-Dehnungskurven, mit denen sie genau erkennen können, ob ein Material unter Bestrahlung seine Härte verändert hat.
Modellierungen ergänzen die Messungen
Messen und Prüfen ist das eine. Für eine Langzeitprognose sind Modellierungen und Simulationen am Computer aber mindestens ebenso wichtig. Schliesslich sollen künftige Reaktoren 60 oder gar mehr Jahre zuverlässig Energie liefern. Deshalb müssen die Ingenieure wissen, ob die für den Bau vorgesehenen Werkstoffe über die gesamte Zeit stabil bleiben oder eventuell verspröden.
Für solche Vorhersagen arbeiten die Forschenden mit atomistischen und auch thermodynamischen Rechnungen. Durch das Zusammenspiel von Experimentieren und Modellieren über verschiedene Zeit- und Raumskalen erhofft man sich z.B. eine Antwort auf die Frage, welche Rolle Magnetismus bei den Vorgängen spielt. Hier gehen die Meinungen in der Fachwelt sehr weit auseinander. Diese Antwort hat aber direkten Einfluss auf die Mikrostruktur der Werkstoffe und ihre daraus resultierenden mechanischen Eigenschaften. Für das System Eisen-Chrom hat das PSI genaue Berechnungen erstellt. So hat man zum Beispiel untersucht, wie sich bei Bestrahlung Fehlstellen oder Defekte auf atomarer Ebene ausbilden und bewegen. Mit den am PSI zur Verfügung stehenden Anlagen können die Wissenschaffenden ihre Modelle sofort in der Praxis überprüfen. Mit Röntgenlicht aus der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS konnte beispielsweise die Ausbildung und Dynamik von Domänen gleicher Magnetisierung oder geometrischer bzw. chemischer Struktur im System Eisen-Chrom sichtbar gemacht werden.
Unter Bestrahlung spielt die Grösse keine Rolle
Eine aufsehenerregende Beobachtung konnten die Forschenden am PSI bei den sogenannten ODS Oxide-Dispersion-Strengthened-Werkstoffen machen. Das sind kommerzielle Stahl-Legierungen, die für den Reaktorbau moderner Kraftwerke in Frage kommen. Sie enthalten kleinste keramische Einschlüsse – sogenannte Dispersoide – aus Yttrium-Oxid, die üblicherweise eine Grösse von einigen Nanometern Durchmesser haben. Man weiss nun, dass dieser Stahl bei erhöhten Temperaturen umso fester ist, je kleiner diese Einschlüsse sind. Wenn die Wissenschaffenden aber die gleichen Versuche bei erhöhten Temperaturen, jedoch unter Bestrahlung machten, stellten sie plötzlich fest, dass die Grösse der Dispersoide keinerlei Einfluss mehr auf die Kriechbeständigkeit (Widerstand gegen Verformung) hatte. Das hatte niemand erwartet. Im Gegenteil, die Industrie hat viel investiert, um diese Legierungen mit möglichst feinen Zusätzen zu versehen. Nun weiss man, dass das zumindest für das strahlungsinduzierte Verhalten des Materials überhaupt keine Rolle spielt.