Lizenzvertrag mit Schweizer Pharmafirma zur Weiterentwicklung eines Krebsmedikaments

Ein am Paul Scherrer Institut PSI entwickelter radioaktiver Wirkstoff gegen eine besonders bösartige Form von Schilddrüsenkrebs hat das Potenzial für einen Medikamenten-Blockbuster. Durch seine Struktur kann er womöglich auch an Zellen anderer Tumore andocken und diese mit seiner Strahlung zerstören – sofern sie an ihrer Oberfläche die passenden Rezeptoren tragen. Ein solcher Tumor ist das kleinzellige Lungenkarzinom. Da es gegen beide Krebsarten keine wirklich effektive Behandlung gibt, will das Lausanner Biopharma-Unternehmen Debiopharm den PSI-Wirkstoff bis zur Zulassung als Arzneimittel weiterentwickeln. Dafür haben Debiopharm und das PSI jetzt die vertragliche Grundlage geschaffen.

Martin Béhé in seinem Labor. (Foto: Paul Scherrer Institut/Markus Fischer)

Das teuerste an einem Medikament ist seine Entwicklung. Von der Idee bis zum fertigen Produkt vergehen Jahre, manchmal Jahrzehnte. Auch der Chemiker Martin Béhé vom Zentrum für Radiopharmazeutische Wissenschaften ZRW am Paul Scherrer Institut PSI unter der Leitung von Roger Schibli tüftelte mehr als zehn Jahre lang an einem speziellen Wirkstoff. Dieser sollte gegen das besonders bösartige, medulläre Schilddrüsenkarzinom helfen, welches sehr leicht Tochtergeschwülste bildet und auch Kinder und junge Erwachsene trifft. Anfang 2016 war es dann soweit: Béhé und sein Team am PSI hatten ein aus zwölf Aminosäuren aufgebautes Molekül – ein Peptid – entwickelt, radioaktiv markiert und schliesslich patentieren lassen. Das Peptid konnte an den Rezeptoren auf der Oberfläche der Tumorzellen andocken. Es enthielt die radioaktive Substanz Lutetium-177, die mit ihrer Strahlung die bösartigen Zellen in der Schilddrüse zerstörte, ohne andere Gewebe zu schädigen. Das zeigten Versuche im Labor. Die Wissenschaftler waren euphorisch: Jetzt konnte man den Wirkstoff in einer ersten Studie an Patienten testen. Diese planten die Forschenden gemeinsam mit den Ärzten der Klinik für Radiologie und Nuklearmedizin des Universitätsspitals Basel. Mit Erlaubnis der Schweizerischen Zulassungs- und Aufsichtsbehörde für Heilmittel Swissmedic und der Ethikkommission konnten die Ärzte den neuen Wirkstoff 2016 erstmals an Studienpatienten mit einem medullären Schilddrüsenkarzinom einsetzen.

PSI-Blog weckte Interesse der Pharmaindustrie

Auf seiner Webseite informierte das PSI in einem Blog über das neue Studienmedikament und wie aufwendig es entwickelt worden war (https://www.psi.ch/media/medikament-gegen-schilddruesenkrebs). Nur wenige Wochen später klingelte bei Béhé das Telefon. An dieses eine Telefonat vor etwas mehr als zwei Jahren kann sich der Forscher noch heute erinnern. Es war eine Mitarbeiterin der Firma Debiopharm, erzählt der Chemiker, sie wollte mehr über unseren Wirkstoff wissen und fragte, ob sie sich einmal am PSI mit uns treffen könne. Forschende anderer wissenschaftlicher Einrichtungen und aus der Industrie nehmen oft Kontakt mit dem PSI auf, um sich über die Forschungsanlagen, Serviceleistungen und mögliche Kooperationsprojekte zu informieren – dass in Villigen Spitzenforschung betrieben wird, ist weithin bekannt. Aber dass eine Firma speziell nach einer Substanz fragt und deswegen extra vorbeikommen will, war neu für uns, erinnert sich Béhé. Das Unternehmen Debiopharm aus Lausanne ist darauf spezialisiert, erfolgversprechende Wirkstoffe von ihren Entwicklern aufzukaufen oder diese im Falle bestehender Patente zu lizenzieren. Dann entwickelt es die Wirkstoffe weiter und bringt sie bis zur Arzneimittel-Zulassung und damit zur Marktreife.

Begegnungen auf Augenhöhe

Dem ersten Anruf folgten mehrere Treffen mit Fachleuten von Debiopharm und dem PSI, alles unter dem Schutz einer Geheimhaltungsvereinbarung. Béhé und die Pharmazeutin Susanne Geistlich vom ZRW berichteten den Industrie-Vertretern zunächst, wie sie das Peptid entwickelt und so verändert haben, dass es nur an Krebszellen und nicht an gesunden Zellen andockt. Sie erklärten auch, wie sie es mit dem radioaktiven Lutetium-Isotop gekoppelt haben, denn die Herstellung eines radioaktiven Arzneimittels ist alles andere als einfach. Weil die wirksame radioaktive Strahlung mit jeder Minute abnimmt, ist das ein Wettlauf gegen die Zeit. Doch die Spezialisten vom ZRW haben darin Erfahrung. Im Reinraum am PSI hat das Team von Geistlich den neuen Wirkstoff selbst schon zwanzig Mal hergestellt und dabei jeden Schritt akribisch dokumentiert (https://www.psi.ch/media/medikamente-punktgenau-hergestellt), wie das bei der Arzneimittelherstellung üblich ist.

Erfolgreiche Patientenstudie als Entscheidungshilfe

Die Studie am Universitätsspital Basel war auch für Debiopharm von besonderem Interesse. Sie sollte die ersten klinischen Daten liefern und zeigen, ob das Medikament auch im Menschen wie erwartet an die Tumorzellen andockt. Zur Zeit der ersten Gespräche zwischen dem Pharmaunternehmen und dem PSI war die Studie an sechs Patienten gerade gestartet worden. Beide Seiten warteten gespannt auf die Ergebnisse. Als diese dann nach etwas mehr als einem Jahr vorlagen, bestätigte sich die Hoffnung: Man kann den PSI-Wirkstoff beim medullären Schilddrüsenkarzinom in einer wirksamen Dosierung einsetzen, ohne dass in anderen Organen schwere Nebenwirkungen auftreten. Diese vielversprechenden Ergebnisse überzeugten die Lausanner Geschäftsleute. Sie wollten den vom PSI patentierten Wirkstoff lizenzieren, um ihn weiterzuentwickeln und auf den Markt zu bringen.

Martin Béhé erinnert sich: Unsere Besprechungsrunden mit Debiopharm wurden grösser und die Fragen konkreter. Die Firma schickte teils bis zu acht Spezialisten aus allen wichtigen Bereichen der Medikamentenentwicklung. Jeder Spezialist von Debiopharm schaute aus einem anderen Blickwinkel auf den Wirkstoff. Sie interessierten sich für die Pharmakologie des Wirkstoffs und die aufwendige Herstellung, diskutierten kommerzielle und rechtliche Aspekte und wollten wissen, welche Bereiche das PSI-Patent abdeckt.

Vertragsverhandlungen mit Unterstützung durch PSI-Technologietransfer

Béhé und Geistlich stellten sich den Fragen souverän und legten alle Daten offen auf den Tisch. Denn das gegenseitige Vertrauen zwischen beiden Partnern war die Grundlage für die anstehenden Vertragsverhandlungen. Dabei erhielten die Forschenden Unterstützung durch Christine Huber vom Technologietransfer des PSI. Die Molekularbiologin betreut beim Technologietransfer den Life-Science-Bereich und wusste daher genau, worauf es bei Verhandlungen mit der Industrie ankommt. Beim Technologietransfer müssen wir darauf achten, unseren Forschenden viele Möglichkeiten offenzuhalten. Ihnen dürfen mit einem Vertrag nicht die Hände gebunden werden, denn als föderales Schweizer Forschungsinstitut ist unsere Aufgabe die Grundlagenforschung, erklärt Huber. Unsere Entwicklungen müssen der Bevölkerung zunutze gemacht werden und der Schweizer Wirtschaft, so auch im Fall von Debiopharm. Im Lizenzvertrag haben wir abgesichert, dass das Medikament nicht in der Schublade verschwindet, falls unser Partner kein Interesse mehr hat. Mangelndes Interesse durch die Lausanner Pharmafirma ist momentan nicht zu befürchten. Im Gegenteil: Debiopharm wollte von Anfang an eine exklusive Lizenz für den PSI-Wirkstoff im Bereich Onkologie, also das alleinige Nutzungsrecht auf dem Gebiet der Krebsdiagnostik und Behandlung.

Mehrere Einsatzgebiete für PSI-Wirkstoff

Béhé erklärt, warum der PSI-Wirkstoff für die Pharmaindustrie so interessant ist: Das Peptid, welches mit dem radioaktiven Lutetium-177 markiert wird, ist ein sogenanntes Minigastrin, sagt der Forscher. Das ähnelt dem körpereigenen Hormon Gastrin, welches an den Cholecystokinin-2-Rezeptor bindet. Und diesen CCK-2-Rezeptor findet man nicht nur in den Tumorzellen der Schilddrüse, sondern auch in denen der Lunge und einiger anderer Organe. Das bedeutet, dass sich prinzipiell alle Krebsarten, die diesen Rezeptor tragen, durch unseren Wirkstoff behandeln lassen. Dieses Potenzial haben auch die Geschäftsleute bei Debiopharm erkannt und dem PSI im Sommer 2017 den ersten Vorschlag für eine Lizenzvereinbarung gemacht. Im Dezember 2017 haben beide Partner den Lizenzvertrag unterzeichnet. Im Juli 2018 ist er endgültig in Kraft getreten. Jetzt gehört der PSI-Wirkstoff mit dem Namen 177LU-PSIG-2 dem Lausanner Pharmaunternehmen und das PSI erhält dafür gestaffelte Lizenzgebühren.

Debiopharm will den Wirkstoff jetzt nicht nur für das medulläre Schilddrüsenkarzinom zur Marktreife bringen, sondern auch für das kleinzellige Lungenkarzinom. An diesem besonders bösartigen Tumor, der vor allem durch Rauchen verursacht wird, erkranken allein in der Schweiz mehrere hundert Patienten pro Jahr. Weniger als ein Fünftel von ihnen leben fünf Jahre später noch. Christine Huber: Wenn Debiopharm den Wirkstoff zur Marktreife bringt und das Arzneimittel künftig dazu beiträgt, dass Krebspatienten geheilt werden oder länger überleben, dann hat auch das PSI wieder einmal seinen Beitrag zum Wohle der Schweizer Gesellschaft geleistet.

Text: Sabine Goldhahn


Weiterführende Informationen
Die Firma Debiopharm hat anlässlich der Zusammenarbeit mit dem PSI auf ihrer Webseite eine Medienmitteilung auf Englisch veröffentlicht.
Kontakt/Ansprechpartner
Dr. Martin Béhé
Leiter der Gruppe Pharmakologie des Zentrums für radiopharmazeutische Wissenschaften
Paul Scherrer Institut, Forschungsstrasse 111, 5232 Villigen PSI, Schweiz
Telefon: +41 56 310 28 17
E-Mail: martin.behe@psi.ch


Prof. Dr. Roger Schibli
Leiter des Zentrums für radiopharmazeutische Wissenschaften
Paul Scherrer Institut, Forschungsstrasse 111, 5232 Villigen PSI, Schweiz
Telefon: +41 56 310 28 37
E-Mail: roger.schibli@psi.ch


Dr. Christine Huber-Musahl
Manager Technologietransfer
Paul Scherrer Institut, Forschungsstrasse 111, 5232 Villigen PSI, Schweiz
Telefon: +41 56 310 26 72
E-Mail: christine.huber@psi.ch