Medikamente punktgenau hergestellt

Am Zentrum für radiopharmazeutische Wissenschaften des Paul Scherrer Instituts PSI entwickeln Wissenschaftler neue Wirkstoffe gegen Krebs. Diese enthalten radioaktive Substanzen, die dem Patienten gespritzt werden und somit bis zum Tumor vordringen können. Dort soll ihre Strahlung die Krebszellen im direkten Kontakt zerstören. Doch ehe ein solches radioaktives Arzneimittel in ersten klinischen Studien am Patienten getestet werden kann, muss seine Sicherheit garantiert sein, damit der Patient keinen Schaden nimmt. Deshalb wird am PSI jeder Wirkstoff unter sterilen Bedingungen hergestellt und überprüft – für jeden Patienten separat und nur auf Bestellung.

Weder Staub noch Keime sind im Reinraum erlaubt. Daher arbeitet die Pharmazeutin Susanne Geistlich mit sterilen Handschuhen und Armstulpen an einer sterilen Arbeitsbank, während sie die nichtradioaktiven Ausgangsstoffe für die Synthese eines Arzneimittels vorbereitet. (Foto: Paul Scherrer Institut/Mahir Dzambegovic)
Blick in das Innere einer heissen Zelle, in der ein Syntheseapparat für radioaktive Arzneimittel steht. Die Gläschen mit dem radioaktiven Ausgangsstoff sowie dem Produkt und dem Abfall der Synthese befinden sich aus Strahlenschutzgründen in Bleibehältern. (Foto: Paul Scherrer Institut/Mahir Dzambegovic)
Die Abfüllanlage für ein radioaktives Arzneimittel. Der gelbe Sterilfilter verhindert, dass Keime in das Gefäss mit dem Endprodukt gelangen. Am PSI werden radioaktive Medikamente für klinische Studien unter streng überwachten Bedingungen hergestellt. Sie sollen einmal Krebspatienten helfen. (Foto: Paul Scherrer Institut/Mahir Dzambegovic)
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Wenn die Pharmazeutin Susanne Geistlich ihren Arbeitsplatz im Labor des PSI betritt, verschwindet sie in einer anderen Welt. Bekleidet mit Mundschutz, Overall, Kopfhaube, sterilen Armstulpen, Spezialschuhen und Schutzbrille hantiert sie an kleinen Fläschchen, die Stoffe für Arzneimittel enthalten. Im Hintergrund surrt leise das Geräusch der Lüftungsanlage. Weder Keime noch Staubteilchen dürfen hier in der Luft umherfliegen, denn Geistlichs Labor ist ein Reinraum. Hier gelten strengste Vorschriften und eigene Gesetze. Doch wozu so ein Aufwand?

Unter höchsten Reinheitsbedingungen entwickelt die Pharmazeutin hier mit ihrem Team radioaktiv markierte Arzneimittel und stellt diese dann für die ersten klinischen Studien am Menschen her. Nicht in grossem Umfang oder für die Massenproduktion. Was hier erzeugt wird, ist das massgefertigte Medikament auf Bestellung. Doch weder Medikament noch Bestellung sind alltäglich, denn bei Geistlich ordern Ärzte radioaktive Strahlung in bestimmter Stärke für genau einen Patienten. Wir stellen hier am PSI keine Medikamente serienmässig her, sondern produzieren für jeden einzelnen, an einer Studie beteiligten Patienten immer nur ein Arzneimittel genau zu dem Zeitpunkt, für den es der Arzt benötigt, betont die Pharmazeutin.

Die Zeit ist der kritischste Faktor bei jeder Bestellung. Denn im Gegensatz zu herkömmlichen Medikamenten nimmt die Wirksamkeit bei einem radioaktiven Arzneimittel mit jeder Minute ab. Daher kann Geistlich auch nicht auf Vorrat produzieren, sondern muss jedes Mal aufs Neue gleich mehrere Komponenten exakt verarbeiten: Eine Strahlenquelle, die in einem Körbchen aus Atomen gefangen ist, ein kleines Protein, das die Strahlung im Körbchen zu ihren Zielzellen transportiert, und eine Flüssigkeit, welche diese Mischung so verdünnt, dass man sie gefahrlos in den Blutkreislauf spritzen kann. Nur einen Millionstel Wirkstoffanteil enthält das fertige Arzneimittel, das der Patient in der Klinik gespritzt bekommt. Das ist nicht mehr als ein homöopathisches Medikament mit einer Verdünnung von D6 oder ein Stück Würfelzucker auf 4 Tonnen Zucker.

Wirkung mit Präzision

Die Strahlung in diesem winzigen Wirkstoffanteil entstammt radioaktiven Isotopen wie beispielsweise Lutetium-177 und soll die Krebszellen zerstören. Dazu müssen die Isotope die bösartige Geschwulst jedoch erst einmal erreichen. Damit das gelingt, müssen sie an Moleküle gekoppelt werden, die in der Lage sind, solche Isotope durch den Blutkreislauf zu transportieren und nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip an Krebszellen anzudocken. Nur ganz wenige Moleküle sind dafür überhaupt geeignet. Eines davon ist Minigastrin, ein hormonähnliches kleines Protein. Es passt perfekt an eine Oberflächenstruktur, die regelmässig auf Krebsarten wie dem medullären Schilddrüsenkarzinom oder dem kleinzelligen Bronchialkarzinom zu finden ist. Forschende am PSI haben einen Wirkstoff aus Minigastrin und dem radioaktiven Isotop Lutetium-177 bereits so weit entwickelt, dass Hoffnung besteht, diesen Schilddrüsenkrebs mit ihm zu vernichten, ohne schwere Nebenwirkungen hervorzurufen. Um jetzt den neuen Wirkstoff für Menschen sicher zu machen, müssen wir ihn so herstellen können, dass er immer dieselbe hohe Qualität aufweist, dieselben Inhaltsstoffe, dieselben Mengen, dieselbe Reinheit, erklärt die Pharmazeutin Geistlich. Hinzu kommt, dass man das optimale Verhältnis vom radioaktiven Isotop zum Minigastrin erst noch herausfinden muss.

Die Dosierung ermitteln wir gemeinsam mit den Ärzten in der Klinik, so Geistlich. Obwohl das Minigastrin für die Krebstherapie nur die Funktion eines Transportmittels hat, welches die radioaktive Strahlung zu den Zielzellen im Tumor bringt, ist es unser limitierender Faktor. Zu viel davon kann hormonähnliche Nebenwirkungen wie Erbrechen verursachen. Zu wenig bewirkt hingegen, dass nicht genügend radioaktive Isotope bei den Krebszellen ankommen und die Behandlung nicht hilft. Eine Mindestmenge von Minigastrin ist daher erforderlich. Die eigentliche Wirkung des Medikaments geht jedoch nur vom radioaktiven Isotop aus, weshalb Ärzte der Universitätsklinik Basel sich jetzt in einer klinischen Studie an dessen optimale Dosierung herantasten wollen. Geistlich und ihr Team am PSI werden dafür das Minigastrin schrittweise mit steigenden Mengen des radioaktiven Isotops koppeln, um die Radioaktivitätsmenge herauszufinden, welche die beste Wirkung hat. Das bedeutet eine möglichst vollständige Ausrottung der Krebszellen, ohne den Rest des Organismus über Gebühr zu schädigen. Daher ist es wichtig, dass die Konzentrationen der einzelnen Substanzen im fertigen Medikament und die Radioaktivität des Isotops hundertprozentig stimmen, unterstreicht die Pharmazeutin.

Herstellung nach Bedarf

Hier kommt das Reinraumlabor am PSI ins Spiel. In dem abgeschotteten Raum steht eine Apparatur, in der eine Vielzahl von Schläuchen und Ventilen verschiedene Reagenzgläser und Messinstrumente miteinander verbindet. Ihr Herzstück ist ein fingerhutgrosses gläsernes Reaktionsgefäss, das von einem dicken Bleimantel umhüllt ist: der Reaktorkochtopf. Darin kocht Geistlich aus Minigastrin und Lutetium das Rohprodukt für das radioaktive Arzneimittel. Und bei diesem Kochprozess muss alles passen: die Zutaten, die Zeitdauer und die Temperatur. So kann bereits eine winzige Verunreinigung durch andere chemische Stoffe oder eine falsche Kochdauer die Mischung aus Minigastrin und radioaktivem Isotop stören. Bei einer zu hohen Temperatur wiederum entstehen freie Radikale, welche die Eigenschaften des Arzneimittels verändern können. Abhilfe schafft hier das Antioxidationsmittel Natriumascorbat, ein Verwandter des Vitamin C. Das und eine niedrigere Reaktionstemperatur steigern die Ausbeute und erhöhen die Reinheit. Zudem verbessert der Vitamin C-Abkömmling die Stabilität, sprich Haltbarkeit, des Medikaments.

All diese Details sind wichtig, und wir haben sie in der Entwicklungsphase des neuen Arzneimittels drei Mal überprüft. Wir müssen gewährleisten, dass die Herstellung des Wirkstoffs wiederholt werden kann und am Ende immer das Gleiche herauskommt, betont Geistlich. Daneben muss die Pharmazeutin immer wieder beweisen, dass die Produktion des radioaktiven Arzneimittels völlig keimfrei abläuft. Wir haben bei uns während der Herstellung noch nie Bakterien nachgewiesen, freut sich Geistlich. Ausser in den chemischen Ausgangsstoffen, aus denen im Reaktor der Wirkstoff erzeugt wird. Die sind zwar hochgradig sauber, aber eben nicht steril. Maximal zwei Bakterien pro Milliliter dürfen in dem Rohprodukt sein, das direkt aus der chemischen Synthese herauskommt. Das testet Geistlich jeweils drei Mal für jedes neue radioaktive Arzneimittel. Nach der chemischen Reaktion fliesst der Wirkstoff durch einen sterilen Filter, in dem auch noch die letzten Keime hängen bleiben. Danach beginnt jener wichtige Schritt, bei dem die Wirkstoffmengen überprüft und steril in Fläschchen abgefüllt werden. Auch dieser sterile Abfüllprozess geht nicht ohne den dreimaligen Nachweis, dass jeder einzelne Arbeitsschritt keimfrei abläuft. Erst mit diesen Sicherheiten kann die Schweizerische Zulassungs- und Aufsichtsbehörde für Heilmittel, Swissmedic, die Zulassung eines neuen radioaktiven Arzneimittels für die ersten Studien am Patienten erlauben.

Wenn nach dieser Zulassung schliesslich der Anruf aus Basel kommt und ein Patient, der an der Studie teilnimmt, sein radioaktives Arzneimittel braucht, müssen punktgenau alle Abläufe im Reinraum stimmen, vom Kochen des radioaktiven Rohprodukts bis hin zum sterilen Abfüllprozess. Am Ende ist der fertige Wirkstoff aus Lutetium-177 und Minigastrin gerade einmal 24 Stunden haltbar. Nur in diesem kurzen Zeitraum kann man sicher sein, dass er so wirkt wie gewünscht.

Wenn die Ergebnisse der Studie mit der Universitätsklinik Basel dann zeigen, dass das radioaktive Arzneimittel so wirksam ist wie erhofft, können die nächsten Schritte unternommen werden, um das Medikament weiter in Richtung Standardbehandlung am Menschen zu entwickeln.

Text: Sabine Goldhahn

Weiterführende Informationen
Kontakt/Ansprechpartner
Susanne Geistlich, Leiterin der Gruppe Klinische Versorgung des Zentrums für radiopharmazeutische Wissenschaften des Paul Scherrer Instituts PSI, der ETH Zürich und des Universitätsspitals Zürich
Telefon: +41 56 310 28 84, E-Mail: susanne.geistlich@psi.ch