Winzlinge im Rampenlicht

Die Welt der Mikroben und Viren ist extrem alt und äusserst vielfältig. Mithilfe der Grossforschungsanlagen des PSI blicken Forschende tief in diesen fremden Kosmos und erkunden vor allem die Proteine exotischer Wesen.

Seit sie vor etwa 3,5 Milliarden Jahren als erstes Leben auf unserem Planeten entstanden, prägen sie die Erde wie keine andere Lebensform: Mikroorganismen. In dieser bunt zusammengewürfelten Gruppe tummeln sich so unterschiedliche Vertreter wie Bakterien, Archaebakterien, Algen, Hefen, Amöben oder Parasiten wie der Malaria-Erreger. Doch so vielfältig Mikroorganismen auch sein mögen, eine biologische Daseinsform schliessen auch sie nicht ein: Viren. Denn diese sind ein Grenzfall zwischen dem Belebten und Unbelebten. Sie besitzen keinen eigenen Stoffwechsel und brauchen deshalb immer einen Wirt, um zum Leben zu erwachen und sich zu vermehren. Die allermeisten Mikroorganismen und Viren sind für Menschen harmlos oder sehr nützlich, etwa bei der Verdauung oder um Lebensmittel herzustellen, Abwasser zu reinigen oder Humus zu bilden. Einige wenige schaden Mensch und Tier auch, so wie die Erreger gefährlicher Krankheiten.

An einem Meeresbakterium studieren Forschende die Funktionsweise einer Natriumpumpe. Das Wissen könnte zu neuen Erkenntnissen in der Neurobiologie verhelfen.
(Grafik: Christoph Frei)

Kein Wunder also, dass sich auch Forschende des PSI mit Mikroorganismen und Viren beschäftigen. Da diese so winzig klein sind und ihre Grösse teilweise nur ein Hundertstel oder gar ein Tausendstel der Dicke eines menschlichen Haares ausmacht, kann man sie und ihre Bestandteile nur unter extrem starker Vergrösserung gut studieren. Übliche Lichtmikroskope reichen dafür bei Weitem nicht aus. Wissenschaftler wie Gebhard Schertler, Leiter des Forschungsbereichs Biologie und Chemie, und sein Team setzen deshalb auf die Grossforschungsanlagen des PSI. An der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS oder dem Freie-Elektronen-Röntgenlaser SwissFEL lassen sich die Proteine und Biomoleküle der Mikroorganismen mithilfe von Röntgen- oder Laserlicht bis auf einzelne Atome genau betrachten und die Eigenschaften ihrer Strukturen entschlüsseln.

Chemiker Schertler hat eine Passion für den Mikrokosmos. Winzige Wesen wie Escherichia coli, Archaebakterien, Baculoviren und andere haben ihn während seiner fünfunddreissigjährigen Forscherkarriere in verschiedenen Laboren beschäftigt. «Mikroben sind die Arbeitspferde der Biotechnologie», sagt er und spricht begeistert über ihre grosse Bedeutung für den Menschen: «Sie können nur aus einer einzigen Zelle bestehen, als dichte Zellschichten aus Mikroorganismen, sogenannte Biofilme, oder auch nur als winziger Partikel existieren.» In der Biotechnologie und Medizin lassen sie sich als chemische Miniaturfabriken nutzen, um Produkte wie Aminosäuren, Medikamente oder Enzyme herzustellen und zu erforschen.

Einzeller mit Sonnenkollektor

In den Laboren des PSI arbeiten Forschende mit Proteinen von unterschiedlichsten Mikroorganismen und Viren. Darunter finden sich harmlose Fragmente eines der stärksten Gifte überhaupt, dem Botulinustoxin, das unter dem Namen «Botox» bei einigen neurologischen Krankheiten hilft – oder in der Schönheitsbranche Falten glättet. Mithilfe des Röntgenlichts der SLS haben Biophysiker Roger Benoit und sein Team die Struktur eines Protein-Komplexes bestimmt, die genau zeigt, wie das Toxin an eine Nervenzelle bindet und dann deren Aktivität blockiert. Die Ergebnisse können nützlich sein für die Entwicklung verbesserter Botox-Medikamente, bei denen die Gefahr einer Überdosierung geringer ist als bisher.

Mithilfe der Anlagen des PSI können Forschende aber nicht nur die starre Struktur von Molekülen aufklären, sondern sogar deren Bewegungen aufzeichnen. So untersuchen PSI-Forschende komplexe lichtgetriebene Ionenpumpen beispielsweise aus sogenannten extremophilen Archaebakterien, die noch an den unwirtlichsten Orten der Erde leben können. Die Pumpen dienen den Forschenden als Modell, an dem sie lichtgetriebene Stoffwechselprozesse und Strukturveränderungen von Proteinen zum Beispiel am SwissFEL untersuchen.

Kinozeit am SwissFEL

Erst kürzlich haben Jörg Standfuss und sein Team am SwissFEL die Funktionsweise eines Retinal-gesteuerten Proteins aus einem Mikroorganismus aufgeklärt, der üblicherweise in den Ozeanen der Erde lebt. In seiner Mitte birgt das Protein eine Form von Vitamin A, das Retinal-Molekül, welches als Lichtrezeptor dient. Fällt Licht auf dieses Molekül, dann absorbiert es einen kleinen Teil davon und verändert seine Form. Dieser Vorgang setzt eine Pumpe in Gang, die Natrium aus der Zelle befördert. Den Forschenden ist es gelungen, diese Natriumpumpe des marinen Bakteriums in Aktion zu filmen. Das Wissen über die genaue Funktionsweise solcher lichtgetriebenen Pumpen lässt sich vielfältig nutzen, hoffen die PSI-Forschenden. «Da die Aktivität von Nervenzellen in mehrzelligen Lebewesen durch Natriumpumpen in ihren Membranen reguliert wird, kann man mit diesen lichtgetriebenen bakteriellen Natriumpumpen ebenfalls die Aktivität von Nervenzellen steuern, was man sich in der sogenannten Optogenetik zunutze machen kann», erklärt Standfuss. «Wenn man sie mithilfe molekulargenetischer Verfahren in Nervenzellen einfügt, kann man diese durch Lichtsignale spezifisch steuern und so die Funktionsweise bestimmter Gehirnregionen erforschen.» Mit den gewonnenen Erkenntnissen will man in der Neurobiologie Fortschritte erzielen.

Coronaviren im Visier

Die Einsatzmöglichkeiten von SwissFEL und SLS für die Forschung an Proteinen von Mikroben und Viren sind überaus vielfältig. Das PSI ist daher aufgrund seiner exzellenten Infrastruktur auch für andere Forschende und die Industrie ein gefragter Partner und unterstützt Forschungskooperationen aus aller Welt. Auch an der Bekämpfung des SARS-CoV-2-Virus hat sich das PSI aktiv mit einer Vielzahl von Initiativen beteiligt. So hat das Institut bereits im März 2020 externe Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufgefordert, die Möglichkeit an der SLS zu nutzen, zeitnah Struktur und Funktionsweise von SARS-CoV-2 mit modernsten Techniken aufzuklären, um Wirkstoffe und Diagnostika zu entwickeln. In einer Zusammenarbeit mit Forschenden der Goethe-Universität Frankfurt am Main gab es bereits wenige Wochen später die ersten Ergebnisse. An einer der drei SLS-Strahllinien für makromolekulare Kristallografie haben die Forschenden das Enzym Protease PLpro untersucht, welches SARS-CoV-2 für den Zusammenbau neuer Viruspartikel in menschlichen Zellen benötigt. Experimente haben gezeigt, wie mit einem möglichen Hemmstoff gegen PLpro die Virusverbreitung blockiert und die antivirale Immunität in menschlichen Epithelzellen, dem Haupteintrittsort des Erregers, erhöht wird. Diese Erkenntnisse eröffnen Möglichkeiten für künftige Wirkstoffe.

Der Malaria-Erreger vermehrt sich in den Blutkörperchen des Menschen. Dafür muss er das für ihn giftige Häm, die Eisenkomponente des Blutfarbstoffs, ausser Gefecht setzen. Ein Wirkstoff, der diesen Vorgang blockiert, könnte Erkrankte therapieren.
(Grafik: Christoph Frei)

Dem internationalen Team kam zugute, dass die SLS-Gruppe für Makromolekulare Kristallografie unter Leitung von Meitian Wang grosse Erfahrung in der Charakterisierung von viralen Strukturen besitzt. So hat bereits die PSI-Forscherin Justyna Wojdyla gemeinsam mit einer chinesischen Forschungsgruppe Proteinstrukturen verschiedener Viren aufgeklärt, die gefährlich für den Menschen sind. Für ihre Analysen richtete sie das starke Röntgenlicht der SLS auf Proteinkristalle von Coronaviren wie MERS-CoV und HKU1 sowie dem Alongshan-Virus. Während die zwei Coronaviren besonders die Atemwege und die Lunge befallen, verursacht das von Zecken übertragene Alongshan-Virus anhaltende Kopfschmerzen, Müdigkeit und Übelkeit. Allen untersuchten Viren ist wie bei SARS-CoV-2 gemein, dass bislang weder eine Impfung noch eine wirksame antivirale Therapie zur Verfügung steht. «Unsere Experimente an der SLS-Strahllinie haben dazu beigetragen, die Struktur und Funktionsweise der Viren besser zu verstehen», freut sich Wojdyla. Für die Untersuchungen an dem Coronavirus HKU1 verwendete die Röntgenkristallografie-Spezialistin an der MX-Strahllinie der SLS eine besondere Technik: die single-wavelength anomalous dispersion. Bei diesem Verfahren wird der Proteinkristall nur sehr kurz dem starken Röntgenlicht ausgesetzt, wodurch mögliche Strahlenschäden am Molekül und damit das Risiko für Fehler während der Datenerfassung reduziert werden.

Mikroben in Bewegung

Neben viralen und bakteriellen Proteinkristallen entschlüsseln PSI-Forschende auch andere Strukturen von winzigen Einzellern, so etwa die zwei Geisseln der Grünalge Chlamydomonas. Die im Süsswasser lebende Mikrobe könnte helfen, den Eintrittsmechanismus des neuen Coronavirus in den Körper zu verstehen. Ihre Geisseln sind feine Zellfortsätze aus Proteinen, die in ähnlicher Form auch in den Atemwegen des Menschen vorkommen. Wenn sich die Flimmerhärchen dort bewegen, wogen sie wie ein Seegrasfeld im Meer. Flimmerhärchen gibt es zudem in den flüssigkeitsgefüllten Hirnkammern, auf Embryonen und im Eileiter. Sie befördern beispielsweise die Eizelle und das Spermium und können bei genetischen Defekten zu Unfruchtbarkeit führen. «Die Flimmerhärchen spielen bei sehr vielen Transportfunktionen im Körper eine grosse Rolle», erklärt Takashi Ishikawa, der seit zehn Jahren am PSI arbeitet und die Grünalgen als Modellsystem erforscht. «Wenn sie ausfallen, werden wichtige Schutzmechanismen ausser Kraft gesetzt.» In den Atemwegen schaffen sie Schleim und Bakterien nach aussen – und sind Ziel für Coronaviren. In der frühen Infektionsphase dringen SARS-CoV-1, der Erreger der ersten SARS-Epidemie, und SARS-CoV-2 über die Zellen der Flimmerhärchen in die Atemwege ein.

Deshalb will Ishikawa genau verstehen, wie die Bewegung der Geisseln zustande kommt und was sie hemmt. Mithilfe der Kryo-Röntgentomografie an der SLS sowie der Kryo-Elektronenmikroskopie untersucht er die wenige Mikrometer langen Zellfortsätze, in deren Innerem sich ein zartes Gerüst aus Proteinröhrchen entspannt: die sogenannten Mikrotubuli. Auf ihnen sitzen Zehntausende winziger molekularer Motoren, welche die Flimmerhärchen aktiv bewegen. Ishikawas Testobjekt Chlamydomonas ist dabei besonders raffiniert: Entweder schlagen ihre zwei Geisseln im Takt, als würde die Alge brustschwimmen, oder sie vollführen wellenförmige Biegungen zur Seite. Die Menge an Kalzium-Ionen ist entscheidend dafür, in welchem Schwimmprogramm die Alge unterwegs ist. Welchen Effekt dies auf das komplexe Zusammenspiel der molekularen Motoren in den Zellfortsätzen hat, will der Japaner nun mithilfe der Röntgentomografie an der cSAXS-Strahllinie der SLS herausfinden.

Neue Wirkstoffe sind das Ziel

Einem ganz anderen und weniger harmlosen Mikroorganismus als der Grünalge wollen Forschende ebenfalls mithilfe der SLS auf die Schliche kommen: dem Malaria-Erreger Plasmodium falciparum. Die Physiologie dieser winzigen Parasiten ist der des Menschen leider sehr ähnlich – zumindest auf zellulärer Ebene. Deshalb lassen sich nur schwer Wirkstoffe gegen Plasmodium entwickeln, die nicht zu starke Nebenwirkungen entfalten. Mithilfe des Synchrotronlichts der SLS suchen PSI-Forschende deshalb nach kleinen strukturellen Unterschieden im Stützapparat, dem sogenannten Zellskelett, zwischen dem Parasiten und dem Menschen. Diese kleinen Unterschiede können helfen, Wirkstoffe zu entwickeln, die das Wachstum der Parasitenzellen, nicht aber der menschlichen Zellen stören.

In enger Zusammenarbeit mit Sergey Kapishnikov von Weizmann-Institut in Israel hat PSI-Forscher Daniel Grolimund in einem internationalen Forschungsprojekt eine andere Möglichkeit aufgezeigt, die den Malaria-Erreger künftig ausschalten könnte. Der Trick dabei ist, dessen Überlebensstrategie zu unterwandern. Wenn Plasmodium sich nach einem Stich der Anopheles-Mücke in den roten Blutkörperchen seines Wirtes vermehrt, verdaut es dort den Blutfarbstoff Hämoglobin. Dabei wird aus dem Hämoglobin das giftige Häm, ein Eisenkomplex, freigesetzt. Der ist für Plasmodium schädlich, weshalb der Parasit ihn in ein unlösliches Kristallpaket umwandelt. Die Forschenden wollten verstehen, wie dieser Prozess genau vonstattengeht. «Mittels Röntgen-Fluoreszenzmikroskopie haben wir an der SLS gemessen, wo in den Parasiten wie viel Häm verteilt ist, und dann berechnet, wie schnell der Parasit es umwandelt», sagt Grolimund. Die Ergebnisse zeigen, welch hohen Aufwand Plasmodium treiben muss, um Häm als Kristallpaket zu verpacken. Es nutzt unter anderem ein Hilfsprotein als Werkzeug, das Protein PV5. Wenn man dieses Werkzeug mit einem geeigneten Wirkstoff lahmlegen könnte, würde der Malaria-Erreger den Schutz vor dem Häm verlieren und sterben, hoffen die Forscher. Doch bis dahin sind noch viele weitere Experimente nötig.

«Die Erforschung grundlegender biologischer Prozesse an Mikroorganismen sowie die Analyse von Biomolekülen der Krankheitserreger ist eine Erfolgsgeschichte für das PSI», resümiert Gebhard Schertler. Sie zeigt zum einen die Bedeutung der Grundlagenforschung für das Renommee des PSI und zum anderen erlaubt sie eine schnelle Reaktion des Instituts bei neuen Herausforderungen wie der Covid-19-Pandemie.

Text: Sabine Goldhahn

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