Musik mit Röntgenlicht retten

Forschende des PSI entwickeln eine Methode, um mit dem speziellen Röntgenlicht der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS Aufnahmen auf hochwertigen historischen Tonbändern zerstörungsfrei zu digitalisieren – darunter auch Schätze aus dem Archiv des Montreux Jazzfestivals – so zum Beispiel eine seltene Aufnahme des «King of the Blues», B.B. King. 

Sebastian Gliga entwickelt eine Methode, um mithilfe von Röntgenstrahlen, wie sie von der SLS erzeugt werden, historische Musikaufnahmen auf zerfallenden Magnetbändern zerstörungsfrei und hochauflösend zu digitalisieren. © Paul Scherrer Institut PSI/Mahir Dzambegovic

1967 rief Claude Nobs das Montreux Jazz Festival ins Leben und verschaffte dem kleinen Städtchen am Genfersee ein Stück Musikgeschichte. Das Festival konnte seither einigen der bedeutendsten Künstlerinnen und Künstlern unserer Zeit eine Bühne bieten und über 5000 Konzerte veranstalten – grosse Namen wie B.B. King, Aretha Franklin, Deep Purple und Prince sind auf der prominenten Liste vertreten. Die Vision von Claude Nobs bestand darin, jedes Konzert in der bestmöglichen Qualität aufzuzeichnen, um das Festival weltweit zu übertragen. Daraus entstand ein umfassendes Archiv, das 2013 von der UNESCO in das sogenannte "Memory of the World Register" aufgenommen wurde.

Das Montreux Jazz Digital Project wurde 2010 von der ETH Lausanne EPFL und der Claude Nobs Foundation lanciert, um die audiovisuelle Sammlung des Montreux Jazz Festivals zu digitalisieren, zu bewahren und zu erweitern. An der EPFL ermöglicht das Montreux Jazz Café der Öffentlichkeit, einen Teil der Sammlung und die von der EPFL und ihren zahlreichen Partnern entwickelten Technologien zu entdecken. Obwohl dieses Archiv grösstenteils digitalisiert und für Forschungs- und Bildungszwecke zur Verfügung gestellt wurde, gibt es immer noch beschädigte Aufnahmen, die wieder zum Leben erweckt werden sollen. 

Die Wiederherstellung der B.B.-King-Aufnahme am PSI erfolgt parallel zu den Bemühungen des Montreux Jazz Digital Project und der United Music Foundation, um ähnlich beschädigte Bänder durch physikalische Behandlungen so zu restaurieren, dass sie auf herkömmlichen Abspielgeräten wieder gespielt werden können.

Magnettonbänder sind mittlerweile fast gänzlich aus unserem Leben verschwunden und geniessen nur noch ein nostalgisches Nischendasein. In den Archiven der Tonstudios, Radio- und TV-Sendern, Museen und privaten Kollektionen weltweit lagern jedoch noch immer grosse Mengen solcher analoger Datenträger. Die Digitalisierung dieser Bestände ist eine ständige Herausforderung sowie auch ein Wettlauf gegen die Zeit, denn die Tonbänder zerfallen und sind irgendwann nicht mehr abspielbar. 

Sebastian Gliga, Physiker am PSI und Spezialist für Nanomagnetismus, entwickelt mit seinem Team eine Methode, mit der sich historische und beschädigte Tonbänder mithilfe von Röntgenlicht zerstörungsfrei und in höchster Qualität digitalisieren lassen. Dafür arbeiteten sie mit der Schweizer Nationalphonothek zusammen, die massgeschneiderte Referenzaufnahmen produziert und ihr tontechnisches Know-how zur Verfügung gestellt hat. In einer Partnerschaft mit dem Montreux Jazz Digital Project (siehe Kasten unten) soll die Methode nun weiterentwickelt und getestet werden. Die Vertragsunterzeichnung fand letzte Woche statt.

Tonaufnahmen vor dem Verfall retten

Die verbliebenen Mitglieder der legendären Rockband Queen standen kürzlich vor einer grossen Herausforderung. In ihrem Studio fanden die Musiker ein Tonband von 1988. Darauf zu hören war ein Song mit der Stimme ihres 1991 verstorbenen Sängers Freddie Mercury. Allerdings war das Band stark beschädigt. Zuerst glaubte niemand daran, dieses besondere Stück retten zu können. Mit grossem Aufwand schafften es die Soundingenieure dennoch. «Es ist, als würde man Teile zusammennähen», liess sich der Gitarrist Brian May von der BBC zitieren. Am 13. Oktober 2022 wurde der Song «Face It Alone» schliesslich veröffentlicht und stürmte über dreissig Jahre nach seinem Entstehen die weltweiten Charts. 

«Das Beispiel zeigt: Tonbänder sind nicht für die Ewigkeit geschaffen», erklärt Gliga. «Das Material zerfällt mit der Zeit und lässt sich nicht mehr abspielen.» Während es zwar möglich ist, Bänder aufwendig zusammenzusetzen und zu restaurieren, verfolgen Gliga und sein Team einen völlig neuartigen Ansatz. Sie verwenden Synchrotronstrahlung: «Mit Röntgenlicht aus einem Synchrotron können wir auch stark beschädigte Tonbandfragmente rekonstruieren, ohne sie auch nur zu berühren.»

Auf Gligas Labortisch liegt momentan ein einmaliger Konzertmitschnitt des legendären Bluesgitarristen B.B. King. 1980 spielte der «King of the Blues» sein zweites Konzert am Montreux Jazzfestival – ein 48-minütiges Spektakel, das vom Schweizer Toningenieur Philippe Zumbrunn auf Band festgehalten wurde. Heute lassen sich jedoch nur gerade mal zehn Sekunden dieses einmaligen Zeitzeugnisses abspielen. Die chemische Zusammensetzung des Tonbandes ist bereits so weit zerfallen, dass jede Wiedergabe in einem herkömmlichen Abspielgerät das Band nur noch weiter zerstört.

«Wir interessierten uns für die Aufnahme von B.B. King nicht nur wegen ihres musikalischen Inhalts, sondern auch wegen der Herausforderung, die der Zustand ihres Verfalls mit sich bringt», schmunzelt Gliga. «Mit Synchrotronstrahlung können wir die Grenzen von herkömmlichen Restaurierungsmethoden überwinden.»

Magnettonband mit der Aufnahme von B.B. Kings Konzert am Jazzfestival Montreux von 1980 aus dem Archiv der Claude Nobs Foundation. Das Band befindet sich in einem fortgeschrittenen Stadium des Verfalls, sodass es mit herkömmlichen Methoden nicht mehr direkt abgespielt werden kann. Die PSI-Forschenden verwenden Synchrotronlicht, um das Audiosignal wiederherzustellen. © EPFL/Alain Dufaux

Die magnetischen Zustände im Visier

Tonbänder speichern Information in einer Schicht winziger magnetischer Teilchen – ähnlich kleiner Kompassnadeln, die entweder gen Norden oder Süden zeigen. Wird das Band bespielt, so verändert sich deren magnetische Ausrichtung – das Band wird magnetisiert und die Audio-Information ist nun im Ausrichtungsmuster physisch gespeichert. Um dieses Muster wieder abzuspielen, bewegt man es an einem Lesekopf vorbei. Da sich das Magnetfeld durch die Ausrichtung der Kompassnadeln ständig ändert, wird im Lesekopf eine Spannung induziert und es entsteht ein elektrisches Signal. Dieses wird wiederum verstärkt und in ein akustisches Signal umgewandelt.

Mit seiner Röntgenmethode setzt Gliga nicht auf das Magnetfeld, sondern auf die einzelnen Kompassnadeln, die dieses Feld erzeugen. «Die Magnetisierungszustände dieser winzigen Teilchen, deren Grössenordnung weniger als ein Zehntel des Durchmessers eines menschlichen Haares beträgt, lassen sich mit Röntgenlicht der SLS fast individuell auslesen und in ein hochwertiges Audiosignal umwandeln.»

Magnettonbänder bestehen aus einer Schicht winziger magnetischer Teilchen – ähnlich wie Kompassnadeln, deren Ausrichtung zur Speicherung von analoger oder binärer Information verwendet wird. Um Aufnahmen, die auf defekten und unlesbaren historischen Bändern gespeichert sind, wieder hörbar zu machen, nutzen Sebastian Gliga und sein Team Synchrotronlicht, wie es von der SLS erzeugt wird. © Paul Scherrer Institut/Dominik Blatter

Die bestmögliche Kopie

«Digitalisierung ist ein kontinuierlicher Prozess», erklärt der Physiker. Wichtig dabei ist die sogenannte Abtastrate. Sie beschreibt die Frequenz, mit der ein analoges Signal zur Umwandlung in ein digitales Signal abgetastet wird. Die kontinuierliche Schallwelle wird in Segmente mit einem bestimmten Zeitintervall unterteilt und digital gespeichert. Eine höhere Abtastrate bedeutet eine höhere Auflösung in der Digitalisierung des ursprünglichen Signals.

Da sich mit dem Synchrotronlicht fast jede einzelne magnetische Kompassnadel auf dem Tonband messen lässt, kann man damit nie da gewesene Auflösung erzielen. «Wir erreichen damit so etwas wie die bestmögliche Kopie», so Gliga.

Nostalgie trifft Hightech

Vieles in der Audiowelt ist Physik und lässt sich in Formeln und Zahlen wiedergeben. Wenn es jedoch um Begriffe wie Klang und die erzeugte Qualität geht, steht das subjektive Hörerlebnis im Vordergrund. Deshalb arbeitet Gliga mit Experten wie dem Basler Toningenieur und Komponisten Daniel Dettwiler zusammen. Dettwiler ist bekannt für analoge Musikbearbeitung. Aus seinem Studio stammt auch eineStuder A80 (siehe Bild), eine Bandmaschine mit der Magnettonbänder aufgenommen und abgespielt werden können.

«Was wir mit Röntgenstrahlen rekonstruieren, ist das reine Audiosignal, wie es auf dem Band gespeichert ist», erklärt Gliga. Spielt man dasselbe Band jedoch auf dem Studer ab, erhält man ein leicht verändertes Signal. «Das liegt an der Elektronik im Gerät, die den Klang zusätzlich verarbeitet und manipuliert.» Gliga und sein Team nutzen deshalb das analoge Gerät aus den Siebzigern, um die am Synchrotron extrahierten Töne mit den konventionell digitalisierten Stücken zu vergleichen.

Sebastian Gliga beim Aufspulen eines Tonbands an einer Studer A80: Die Bandmaschine ist eine Leihgabe des Studios Idee und Klang des Basler Toningenieurs und Komponisten Daniel Dettwiler. Das analoge Gerät, das in den 1970er-Jahren in Regensdorf fabriziert wurde, dient zum Erstellen von Referenzaufnahmen, welche sich direkt mit den Ergebnissen der Synchrotronmessungen vergleichen lassen. © Paul Scherrer Institut/Mahir Dzambegovic

Momentan bleibt das Synchrotronlicht jedoch aus – es herrscht „Dark Time“ an der SLS. Bis Anfangs 2025 wird die Grossforschungsanlage einem umfassenden Upgrade unterzogen. Damit soll die Brillanz des Synchrotronstrahls um einen Faktor 40 verbessert werden. «Unsere Methode wird vom Upgrade stark profitieren und noch effizientere Messungen ermöglichen», erklärt der Physiker.

Unterstützt wird Gligas Projekt durch das Förderprogramm BRIDGE des Schweizerischen Nationalfonds SNF und der Schweizerischen Agentur für Innovationsförderung Innosuisse sowie durch die UBS-Kulturstiftung, die die Digitalisierung der B.B.-King-Aufnahme fördert. Ausserdem erhält Gliga Unterstützung durch das PSI Founder Fellowship, ein Programm, das wissenschaftsbasierte Innovationen fördert.


Text: Paul Scherrer Institut PSI/Benjamin A. Senn

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Über das PSI

Das Paul Scherrer Institut PSI entwickelt, baut und betreibt grosse und komplexe Forschungsanlagen und stellt sie der nationalen und internationalen Forschungsgemeinde zur Verfügung. Eigene Forschungsschwerpunkte sind Zukunftstechnologien, Energie und Klima, Health Innovation und Grundlagen der Natur. Die Ausbildung von jungen Menschen ist ein zentrales Anliegen des PSI. Deshalb sind etwa ein Viertel unserer Mitarbeitenden Postdoktorierende, Doktorierende oder Lernende. Insgesamt beschäftigt das PSI 2200 Mitarbeitende, das damit das grösste Forschungsinstitut der Schweiz ist. Das Jahresbudget beträgt rund CHF 420 Mio. Das PSI ist Teil des ETH-Bereichs, dem auch die ETH Zürich und die ETH Lausanne angehören sowie die Forschungsinstitute Eawag, Empa und WSL. (Stand 06/2023)