Die Sicherheit im Griff

Protonen können Krebszellen präzise vernichten, indem sie deren Erbsubstanz DNA zerstören. Diese Eigenschaft nutzen Ärzte am Zentrum für Protonentherapie am Paul Scherrer Institut PSI, wenn sie Patienten mit tief liegenden Tumoren oder mit Krebs am Augenhintergrund behandeln. Doch falls der Protonenstrahl daneben trifft, kann auch gesundes Gewebe Schaden nehmen. Um das zu vermeiden, gibt es für jede Bestrahlung eines Patienten vielfältige Schutzmassnahmen. Diese müssen exakt funktionieren. Ein ganzes Team von Spezialisten sorgt deshalb jeden Tag für die Patientensicherheit und einen reibungslosen Ablauf.

Der Physiker Martin Grossmann überprüft ein Sicherheitselement im Strahlengang hinter der Protonenbestrahlungsanlage Gantry 3. (Foto: Paul Scherrer Institut/Mahir Dzambegovic)
Der Protonenstrahl, der in einer waagerechten Vakuumröhre zum Bestrahlungsgerät Gantry 3 geht, kann im Notfall innerhalb weniger Millisekunden mechanisch gestoppt werden. Dann wird der kleine Kupferblock mittels Druckluft direkt von oben nach unten in den Strahl geschossen und blockiert ihn. (Foto: Paul Scherrer Institut/Mahir Dzambegovic)
Tiger – so heisst das am Paul Scherrer Institut selbstentwickelte Phantom, mit dem jeden Tag die Energie des Protonenstrahls und seine Zielgenauigkeit getestet werden, bevor der erste Patient behandelt wird. Seinen Namen hat das Gerät von der streifenartigen Anordnung der acht Kunststoffplatten (Mitte unten im Bild), welche die Wirkung des Strahls in unterschiedlichen Gewebetiefen wiedergeben. Bei der Kalibrierung des Strahls kann man genau festlegen, bis in welche Tiefe der Strahl gehen muss. (Foto: Paul Scherrer Institut/Mahir Dzambegovic)
Gerhard Aigner (rechts), der am Zentrum für Protonentherapie für Sicherheit und Qualitätskontrolle zuständig ist, behält auch bei über 350 Sicherheitstests pro Jahr noch den Überblick. Hier bespricht er mit dem Physiker Martin Grossmann die Ergebnisse der letzten Checks. (Foto: Paul Scherrer Institut/Mahir Dzambegovic)
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Um 6 Uhr morgens herrscht noch völlige Ruhe in den schwach erhellten Räumen des Zentrums für Protonentherapie ZPT. Kein Patient sitzt im Wartezimmer, der Empfang ist verwaist, und in den Behandlungsräumen stehen die High-Tech-Geräte wie schlafende Riesen im Stand-by-Modus. Keine Mitarbeitenden sind zu sehen. Einzig der diensthabende Techniker beginnt sein Tagwerk und startet auf Knopfdruck die drei Behandlungsplätze für Protonentherapie am Paul Scherrer Institut: Gantry 1 und 2 sowie OPTIS. Mit leisem Summen fahren die Computer hoch, und die zahlreichen Bildschirme in den Kontrollräumen erwachen flimmernd zum Leben. Für jede der drei Anlagen macht der Techniker zwanzig Minuten lang nach vorgeschriebenen Regeln einen Sicherheitstest und lässt ihn durch zwei Spezialisten gegenchecken und unterschreiben. Zwei Stunden dauert das ganze Prozedere, um die korrekte Funktion der Anlagen zu testen und Fehler zu beheben. Erst dann, ab 8 Uhr morgens, dürfen die ersten Patienten mit Protonen bestrahlt werden.

Über 350 Sicherheitstests im Jahr

Wir haben insgesamt 43 Prozesse, die jeden Morgen überprüft werden müssen und weitere über dreihundert, die jede Woche, jeden Monat oder nur etwa einmal jährlich nötig sind, berichtet Gerhard Aigner, der am ZPT für Sicherheit und Qualitätskontrolle zuständig ist. In seinem Büro stehen ganze Regalmeter voller Ordner, die Bedienungsanleitungen, Sicherheitsanweisungen oder unterschriebene Testprotokolle enthalten. Aigner muss den Überblick behalten, wann welche Tests zur Sicherheit der Anlage erforderlich sind und ob sie auch wirklich stattgefunden haben. Allein zu unserem morgendlichen Routinecheck gehören einfache Kontrollen wie der Test der Audioanlagen, über die unsere Behandler mit den Patienten sprechen, aber auch komplexere physikalische Tests mit dem sogenannten Daily-check-Phantom. Hinter diesem Namen verbirgt sich eine grosse weisse Kiste, vollgestopft mit Elektronik. Jeden Morgen stellt sie ein Techniker in allen drei Anlagen direkt in den Strahlengang des Protonenstrahls – dorthin, wo sich normalerweise der Patient befindet. Dann richtet er den Strahl mit vorgegebenen Strahlendosen auf vorher festgelegte Punkte am Phantom und misst mit diesen unter anderem, ob die Strahlendosis und die Zielgenauigkeit des Strahls stimmen.

Protonen haben eine hohe Präzision, sodass man Tumoren auch an schwer zugänglichen oder besonders empfindlichen Stellen im Körper bis auf einen Zehntelmillimeter genau behandeln kann, erklärt der Physiker Martin Grossmann vom ZPT. Aber diesen Vorteil kann man nur ausnutzen, wenn man auch den Patienten im Behandlungsstuhl oder auf der Behandlungsliege richtig in den Strahlengang bringt. Das gelingt uns bisher auf etwa einen Millimeter genau. Die exakte Position der Patienten in den drei Anlagen wird über eigene Computerprogramme gesteuert, die Grossmann mit seinem Team vor Jahren entwickelt hat. Eine besondere Herausforderung liegt darin, dass der Patient an jedem Tag der mehrwöchigen Behandlung genau gleich positioniert werden muss. Deshalb steht vor jeder einzelnen Protonenbestrahlung eine Röntgenaufnahme auf dem Programm, um anhand von anatomischen Markern auf dem Röntgenbild zu kontrollieren, dass ein Patient für die Bestrahlung immer korrekt sitzt oder liegt.

Besser als die Industrie

Doch wenn der Strahl selbst auf einmal abweicht? Dann geht eine ganze Notfallkaskade los, die verhindert, dass die Protonen die falsche Stelle treffen. Auf deren Entwicklung, Programmierung und Umsetzung sind Grossmann und sein Team besonders stolz: Als wir vor zwanzig Jahren als Erste auf der Welt mit der Spot-scanning -Technik in unserer ersten Gantry angefangen haben, wollten wir absolut sicher gehen, dass es bei dieser neuen Form der Protonenbestrahlung zu keinem Unfall mit Patienten kommt. Offizielle Vorschriften gab es noch nicht, und so haben wir fünf Sicherheitsbarrieren eingebaut – mehr als heute von kommerziellen Anbietern verlangt wird. Ohne das geballte Wissen der Spezialisten, die wir hier am PSI haben, wäre das so nicht machbar gewesen. Die fünf Sicherheitsbarrieren existieren noch heute und sind alle hintereinander geschaltet. Wenn eines ausfällt, springt das nächste an.

Für jeden Patienten gibt es einen Behandlungsplan, der gemeinsam von Ärzten und Medizinphysikern erstellt wird. Dieser enthält unter anderem Informationen, wo genau der Tumor in einem virtuellen dreidimensionalen Koordinatensystem im Patienten liegt und mit welcher Dosis und wie lange jeder einzelne Punkt im Tumor bestrahlt werden soll. Dieser Behandlungsplan wird im Computer hinterlegt. Er ist die Grundlage für die automatische Steuerung der zwei tonnenschweren Bestrahlungsgeräte Gantry 1 und Gantry 2. Für jede Bestrahlung gibt es Sicherheitsziele: So muss die Strahlendosis auf ein Prozent genau mit der Planung übereinstimmen, und die Strahlposition muss jeden Punkt im Tumor in allen drei Ebenen bis auf einen Millimeter genau wie vorausberechnet treffen. Während der ganzen Dauer einer Bestrahlung registrieren verschiedene Messgeräte im Strahlengang, ob diese Vorgaben eingehalten werden. Wenn nicht, schaltet der Strahl automatisch ab: Nach einer Latenz von weniger als einer Millisekunde reagiert das erste Sicherheitselement.

Dreissig Jahre unfallfrei

Wir haben mechanische Blockierungssysteme, die wir in den Strahl schalten können, zum Beispiel einen fünf Zentimeter dicken Kupferblock. Dadurch werden die Protonen aufgehalten und gelangen nicht mehr bis zum Patienten, erklärt Grossmann. Die ersten zwei Blockierungssysteme schiessen den Kupferblock mit Druckluft in den Strahl und sind daher besonders schnell. Sollten beide ausfallen, springt das dritte an, das mit Schwerkraft funktioniert und ebenfalls einen Strahlstopper bewegt. Noch schneller reagiert das elektrische System zur Schnellabschaltung des fünfzig Meter entfernten Beschleunigers, der den Protonenstrahl auf sechzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit bringt. Das letzte der fünf Sicherheitssysteme liegt direkt an der Quelle des Protonenstrahls, nahe der Gasflasche mit Wasserstoff, welcher die Protonen liefert. Wir blicken jetzt auf über dreissig Jahre unfallfreien Betrieb zurück, resümiert Grossmann, der seit zwanzig Jahren dabei ist und jede Schraube der Anlage kennt, und das bei mehreren Tausend Patienten.

Das hohe Sicherheitsbewusstsein für die drei Protonentherapie-Anlagen, die alle am PSI entwickelt wurden, zeichnet die Mitarbeitenden am ZPT aus. Doch schon dieses Jahr wird die vierte Anlage in Betrieb gehen, eine neue Gantry. Gantry 3 ist ein Novum am ZPT, denn es ist die erste Anlage aus dem Katalog eines kommerziellen Anbieters. Da sollte alles viel einfacher und auf Knopfdruck funktionieren. Doch die Herausforderung für Grossmanns Team lag bei Gantry 3 woanders: Das neue Bestrahlungsgerät musste mit der PSI-eigenen Beschleunigeranlage verbunden und an diese angepasst werden. Der Physiker betont: Diese Schnittstelle zu bauen, war ein recht grosser Aufwand für das PSI. Das Schwierigste waren die unterschiedlichen Philosophien, wie man den Strahl steuert, wie alles kontrolliert wird und wie die Sicherheitssysteme funktionieren. Der Hersteller hatte nur zwei Sicherheitssysteme eingebaut, das PSI hat fünf. Also mussten die Spezialisten Wege finden, um die fünf Sicherheitssysteme auch mit dem neuen Gerät zu steuern. Voraussichtlich Ende dieses Jahres können die ersten Patienten in der Gantry 3 behandelt werden. Dann können sich die Physiker und Techniker am ZPT wieder anderen Herausforderungen widmen.

Engagiert bis in die Nacht

So forschen sie derzeit für die Bestrahlungsanlage Gantry 2 an einer Möglichkeit, die Bestrahlungszeit zu verkürzen und die Patienten noch schneller zu behandeln. Dies wollen sie dadurch erreichen, indem sie den Protonenstrahl kontinuierlich über den Tumor bewegen, wie einen Stift, der auf einem Papier eine Linie zieht. Bislang wird ein Tumor bei der Spot-scanning -Technik punktförmig bestrahlt, so als ob jemand mit dem Stift viele kleine Punkte nebeneinander setzt. Zwischen jedem Punkt wird der Protonenstrahl kurz unterbrochen, bevor er zum nächsten gelangt. Das kostet Zeit. Die ersten Entwicklungen für diese neue Technik sind bereits fertig. Als nächstes müssen auch dafür wieder neue Sicherheitssysteme programmiert und getestet werden. Diese und andere Forschungsaufgaben sowie Kalibrierungen und Messungen zur Qualitätssicherung fallen vor allem in den Abendstunden und in der frühen Nacht an. Dann, wenn kein Patient mehr im Hause ist und es draussen dunkel wird, gehen die Mitarbeitenden des ZPT auf die Suche nach Neuem.

Text: Sabine Goldhahn

Weiterführende Informationen
  • Wie am Zentrum für Protonentherapie des PSI Kinder, die Krebs haben, mit der Protonentherapie behandelt werden, beschreibt der Artikel Grosse Hilfe für kleine Kinder.
  • Einen Überblick über die Arbeit des Zentrums für Protonentherapie (ZPT) und die Entwicklung der Protonentherapie am PSI gibt der Artikel Mehrwert für Krebskranke.
  • Eine besondere Form der Protonentherapie, die Spot-Scanning-Technik, wurde vor über zwanzig Jahren am PSI entwickelt. Diese Methode kommt heute weltweit zum Einsatz und hat schon mehreren Tausend Patienten geholfen. Details stehen im Artikel 20 Jahre hochpräzise Krebsbekämpfung.
  • Protonentherapie am PSI hat mit der Bestrahlung von Augentumoren begonnen. Bis heute hat das PSI allein 6700 Patienten behandelt. Mehr darüber berichtet der Artikel Lichtblicke für Patienten.
Webseite des Zentrums für Protonentherapie am PSI: https://www.psi.ch/protontherapy/
Kontakt
Dr. Martin Grossmann Handschin, Physiker am Zentrum für Protonentherapie
Paul Scherrer Institut, 5232 Villigen PSI, Schweiz
Telefon: +41 56 310 36 33, E-Mail: martin.grossmann@psi.ch

Gerhard Aigner, Stabsstelle Sicherheit und Qualitätssicherung am Zentrum für Protonentherapie
Paul Scherrer Institut, 5232 Villigen PSI, Schweiz
Telefon: +41 56 310 34 48, E-Mail: gerhard.aigner@psi.ch

Dr. Ulrike Kliebsch , Verantwortliche für Wissenschaft und Information am Zentrum für Protonentherapie
Paul Scherrer Institut, 5232 Villigen PSI, Schweiz
Telefon: +41 56 310 55 82, E-Mail: ulrike.kliebsch@psi.ch