Interview G. V. Shivashankar

Warum Covid-19 ältere Menschen besonders hart trifft

Je älter man ist, desto höher ist die Gefahr, an einer Infektion mit dem Coronavirus zu sterben. G. V. Shivashankar, Gruppenleiter am PSI und Professor an der ETH Zürich, stellt in einer Veröffentlichung in «Nature Reviews» nun eine aussergewöhnliche These vor: Die Steifheit von Zellen soll für den Krankheitsverlauf eine entscheidende Rolle spielen. Im Interview erklärt er wieso.

G. V. Shivashankar, Gruppenleiter im PSI-Forschungsbereich für Biologie und Chemie
(Foto: Mechanobiology Institute, NUS, Singapore/Melanie Lee)

Herr Shivashankar, wie steif ein Lungengewebe ist, soll Einfluss darauf haben, wie anfällig es für das Coronavirus ist. Das schreiben Sie und Ihre Kooperationspartnerin Caroline Uhler von der ETH Zürich in einem Kommentar in «Nature Reviews». Wie kommen Sie darauf?

G. V. Shivashankar: Coronaviren infizieren sowohl jüngere als auch ältere Menschen, aber bei älteren Patienten hat sich das Virus als viel gefährlicher erwiesen. Wir fragten uns also: Was ist bei einem alten Lungengewebe anders als bei einem jungen? Eine Antwort ist, dass sich die Flexibilität unterscheidet. Je älter ein Mensch ist, desto steifer ist in der Regel sein Lungengewebe.

Wie kann das denn einen Einfluss haben?

Auf Zellen wirken viele physikalische Kräfte: An ihnen wird geschoben, gezogen und gezerrt. Im Laufe der letzten Jahre hat sich gezeigt, dass eine Zelle diese physikalischen Kräfte nicht nur wahrnimmt, sondern auch auf sie reagiert. Das heisst: Eine Zelle kann eine Spannung registrieren und diese Information dann in den Zellkern weiterleiten, um Gene zu regulieren. Mit zunehmendem Alter wird das Lungengewebe steifer − und das beeinflusst drastisch, wie die Zellen dort ihre Funktion erfüllen.

Mit anderen Worten: Steifere Zellen verändern die Art, wie sie ihr Erbgut ablesen und diese Informationen in Eiweisse übersetzen?

Genau. Wir haben im Laufe der Jahre unter anderem gesehen, dass die Steifheit eines Gewebes dramatischen Einfluss darauf hat, wie die DNA und das Zytoskelett in einer Zelle aufgebaut sind. Lassen Sie mich das erläutern: Alle Zellen in unserem Körper haben eine bestimmte Form. Das ist wie bei einem Zelt, das durch Stangen gehalten wird. Bei Zellen übernimmt das Zytoskelett diese stützende Aufgabe. Es ist ein komplexes Netzwerk aus miteinander verbundenen Proteinfasern. Jüngste Forschungen, einschliesslich unserer eigenen, haben gezeigt, dass das Zytoskelett eng mit Form und Grösse des Zellkerns in Verbindung steht.

Wie kann das Zytoskelett das Geschehen im Inneren des Zellkerns beeinflussen?

Wenn man das gesamte Erbmaterial einer menschlichen Zelle, das ja in Form extrem langer Molekülketten im Zellkern lagert, ausgestreckt auf den Boden legen würde, dann wären die aneinandergelegten Ketten einige Meter lang. Dieser lange Faden muss in den kleinen Zellkern gepackt werden. Die Zytoskelettfasern üben Kräfte auf den Kern aus und helfen so dabei, diese enge Packung beizubehalten. Sie helfen auch beim Öffnen und Schliessen dieser Unmenge an Material – etwa wenn das Erbgut, also die DNA, abgelesen wird, um Eiweisse herzustellen.

Warum ist all das so wichtig, wenn Coronaviren ins Spiel kommen?

Coronaviren kapern das Immunsystem der Zellen, um sich vermehren zu können. Wenn ein Virus eine Zelle infiziert, nutzt es deren Signalwege – das sind Netzwerke von Molekülen, über die verschiedene Teile einer Zelle miteinander kommunizieren. Das Virus nutzt dieses Kommunikationssystem, um Zellen dazu zu bringen, das Erbgut des Virus zu vermehren. Gleichzeitig dämpft das Virus über diesen Weg die Immunantwort der Zelle. Interessanterweise nutzen Coronaviren genau denselben Signalweg, der in Zellen eingeschaltet wird, wenn sie steifer werden.

Sie nehmen also an, dass sich das Virus deshalb in gealterten Zellen besser vermehren kann?

Ja. Unsere Hypothese ist, dass das Virus sowohl alte als auch junge Menschen auf die gleiche Weise infiziert, aber wenn es einmal in der Zelle ist, kann das Virus in älteren Zellen effektiver mit dem Signalweg wechselwirken. Deshalb kann sich das Virus bei älteren Menschen besser replizieren und vermehren.

Es gibt aber zunehmend Berichte, dass auch junge Menschen durch Covid-19 schwer erkranken und sogar sterben. Widerspricht das nicht Ihrer Hypothese?

Nun, jede Zelle ist ein wenig anders, weil auch die Mikroumgebung, in der sie lebt, immer etwas anders ist. Es ist durchaus plausibel, dass es selbst in jüngeren Menschen Lungengewebsbereiche gibt, die beispielsweise aufgrund einer früheren Krankheit steifer sind. Jeder Mensch ist anders, einige haben stärkere Lungen, andere schwächere. Aber in einem älteren Menschen ist der Anteil von steiferem Lungengewebe in jedem Fall viel höher.

Wie wollen Sie Ihre Hypothese testen?

Wenn wir Lungengewebe von Menschen bekommen, die an Covid-19 gestorben sind, wollen wir mit hochauflösenden bildgebenden Verfahren dieses Gewebe auf Ebene einzelner Zellen untersuchen. Dann wollen wir analysieren, welche Zellen mehr Viren enthalten und welche weniger. Wir wollen jeweils ihren Zustand untersuchen und in einer Art Landkarte festhalten: Wie ist jeweils der Zellkern aufgebaut, wie das Zytoskelett und wie die Signalwege? Dann wird sich zeigen, ob steifere Zellen von einer grösseren Zahl Viren befallen sind.

Nehmen wir an, Ihre Hypothese ist richtig − wie könnte das zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie beitragen?

Wenn das Coronavirus wirklich die Steifheit und die entsprechenden Signalwege der Zellen ausnutzt, könnte das dabei helfen, ein Medikament zu finden. Es gibt bereits viele zugelassene Substanzen, die genau dort wirken. Wir könnten dann diese Medikamente dahingehend untersuchen, ob sie die Virusvermehrung blockieren.

Wie genau wollen Sie das untersuchen?

Wir haben vor, im Labor eine Gewebekultur in der Petrischale zu erschaffen, die das Lungengewebe nachahmt. Solche Kulturen heissen Organoide, und es ist eine gängige, beliebte Labortechnik. Bei solchen Kulturen kann man die Steifheit des Gewebes einstellen, man kann «jüngere» weichere Organoide und «ältere» steifere herstellen. Diese Gewebe wollen wir dann mit Coronaviruspartikeln infizieren und Medikamente daran testen. Mithilfe von Bioimaging, genomischen Analysen und maschinellem Lernen wollen wir herausfinden, welche Protein-Protein-Wechselwirkungen das Virus ganz konkret kapert − das wird uns helfen, ein Medikament zu finden, welches das Virus bei seiner Vermehrung stoppt.

Da diese Medikamente bereits zugelassen und verfügbar sind − wäre es nicht einfacher, sie direkt an Patienten zu testen?

Die Zahl der Medikamente, die auf die entsprechenden Signalwege in der Zelle abzielen, beläuft sich auf einige Hundert. Und vielleicht braucht man auch nicht ein einziges Medikament, sondern eine Kombination davon. Genauso wenig weiss man, welche Konzentrationen am besten wären. Einige Medikamente wurden in der Klinik bereits an Corona-Patienten, die in sehr kritischem Zustand waren, eingesetzt, aber ein intelligentes Screening, wie wir es vorschlagen, würde es ermöglichen, die Behandlungsmethode sorgfältig zu analysieren und auszuwählen.

Wird die Infrastruktur am PSI für Ihre Forschung nützlich sein?

Auf jeden Fall. Das PSI verfügt über einige Einrichtungen, die auf der Welt einzigartig sind. Besonders die Synchrotron Lichtquelle Schweiz ist ein sehr wichtiges Element in unserem Projekt. Um Gewebekulturen erfolgversprechend zu nutzen, brauchen wir ein hervorragendes Bioimaging, um hochaufgelöst Zellen, DNA-Strukturen und Viren im Inneren der Zellen zu betrachten.

Der PSI-Forschungsbereich für Biologie und Chemie ist zudem führend, wenn es darum geht, Proteinstrukturen zu analysieren und die Beziehungen zwischen Struktur und Funktion eines Eiweisses zu untersuchen − dieses Know-how wird in diesem Projekt von unschätzbarem Wert sein. Auf die hervorragenden Mikrofabrikationsanlagen am PSI können wir nicht verzichten, um Organoide und neue diagnostische Plattformen für solche Studien zu erschaffen. Genauso entscheidend sind die guten Rechenprogramme am PSI, um wissenschaftliche Daten zu analysieren.

Ist es ein besonderes Kennzeichen von Coronaviren, die steifere Mechanik einer Zelle auszunutzen, oder könnte das auch für andere Viren gelten? Die Grippe etwa trifft ältere Menschen ebenfalls viel härter als jüngere.

Ja, ich denke, die Idee, dass sich die Steifheit von Gewebe im Alter ändert, ist für viele Krankheiten wichtig. In unserem Labor untersuchen wir auch Tumorproben. Krebs beginnt mit einer einzelnen Zelle, die zu einem Tumor heranwächst – auch hier kann also das mechanische Alter der Mikroumgebung einen Einfluss haben. Wir starten für diese Studien gerade Kooperationen mit dem Zentrum für radiopharmazeutische Wissenschaften und dem Zentrum für Protonentherapie am PSI. Und es gibt noch viele weitere altersbedingte Krankheiten, Neurodegeneration etwa, bei denen das eine Rolle spielen könnte. Das Verständnis darüber, was genau in älteren steifen Geweben passiert, wie die Mechanik eines Gewebes mit der Genregulation wechselwirkt, wird allmählich ein wichtiger Aspekt bei vielen Krankheiten. Ich freue mich darauf, diese Forschung am PSI auszuführen.

Interview: Paul Scherrer Institut/Brigitte Osterath

Kontakt/Ansprechpartner

Prof. Dr. G. V. Shivashankar
Forschungsbereich für Biologie und Chemie

Paul Scherrer Institut, Forschungsstrasse 111, 5232 Villigen PSI, Schweiz
Telefon: +41 56 310 42 50, E-Mail: gv.shivashankar@psi.ch [Englisch]

Weiterführende Informationen

Forschung zu Covid-19

Originalveröffentlichung

Mechano-genomic regulation of coronaviruses and its interplay with ageing
C. Uhler, G. V. Shivashankar

Nature Reviews Molecular Cell Biology, 02. April 2020 (online)
DOI: 10.1038/s41580-020-0242-z